Ein Auge auf meine Kinder, das andere auf die Hügel! (5/5)

Verfasst von - 1. August 2019 - Aktuell vor Ort, Archiv

Dies ist der fünfte Blogbeitrag einer Freiwilligen aus Österreich, die auf Einsatz mit EAPPI ist. Insgesamt bauen fünf Blogbeiträge aufeinander auf. Hier geht’s zu dem ersten Beitrag: In den Hügeln von Ein Ar Rashash: Schutz durch Anwesenheit in der West Bank, dem zweiten Beitrag: “Selig, die das Recht bewahren, die Gerechtigkeit üben zu jeder Zeit” (Psalm 106,3), dem dritten Beitrag: Gesperrte Militär-Zonen, Outposts & Siedlungen und dem vierten Beitrag: Die rechte Organisation Im Tirtzu ist zu „Besuch“ in Ein Ar Rashash (4/5).

Die Abwesenheit Abu Raheds und seiner Familie ermöglicht uns die Schäfer von Al Mugahhyir besser kennenzulernen. An einem Tag kommen wir etwas später in die Hügel um Ein Ar Rashash und treffen einen alten Mann um die Achtzig mit seinem etwa 12-jährigen Enkel an. Beide werden aggressiv von zwei jungen Siedlnern mit ihren Hunden bedrängt und fotografiert, obwohl sie kaum mehr als 100 Meter von den Zeltstädten der BeduinInnen entfernt sind. Der alte Mann ist offensichtlich froh, uns zu sehen und fühlt sich sehr unwohl, als die Siedler-Jungen ihn filmen. Sein junger Enkel bleibt tapfer stehen und filmt zurück. Er lässt sich von dem aggressiven Gehabe der älteren Jungen nicht wirklich einschüchtern.

Am nächsten Samstag ist Abu Rahed zurück. Als wir mit ihm in die Hügel ziehen, entdecken wir einen der Söhne des alten Manns weit oben in den Hügeln. Näher an Elhanans Wohnstätte, als ich vorher je eineN PalästinenserIn sah. Unser lokaler Kontakt ruft ihn an und fragt, warum er da oben sei. Seine überzeugende Antwort ist: „Warum nicht!“. Er studiert unter der Woche in Nablus, wollte aber am Wochenende seinen alten, besorgten Vater entlasten und ging mit der Herde hinaus. Wir kommen zeitgleich mit drei Siedlern bei ihm an. In den nächsten zwei Stunden werden die drei versuchen, die Herde des Schäfers weiter hinein ins Tal zu drängen, indem sie die Schafe mit ihrem Pferd oder gehend vor sich hertreiben. Während wir so tun, als würde nichts geschehen, und einfach bleiben. Unser Frühstück bereitet uns der Schäfer auf einem offenen Feuer zu. Die Siedler setzen sich einen halben Meter hinter uns und starren uns an.

Ich denke, der junge Schäfer setzte ein wichtiges Zeichen, dass die PalästinenserInnen nicht beabsichtigen ihr Land aufzugeben. Gleichzeitig kamen die Schafe kaum zum Fressen, da sie dauernd umhergetrieben wurden.

Blick auf die Zelte der BeduinInnenfamilie in Ein Ar Rashash (Foto: EAPPI/ privat)

Abu Rahed und seine Frau haben sechs Kinder: vier Söhne und zwei Töchter zwischen zwei und 15 Jahren alt. Waren sie am Anfang noch sehr scheu, kommen ihre jüngsten Söhne jetzt angelaufen, wenn wir kommen, und auch ihre Töchter lächeln uns offen zu.
In der BeduinInnengemeinschaft herrscht strikte Geschlechtertrennung. Wir haben kaum Kontakt zu Abu Raheds Frau. Wann immer wir sie aber sehen, ist sie am Arbeiten und grüßt uns sehr freundlich. Sie ist es, die für uns immer die köstlichen Frühstücke zubereitet, inklusive selbstgemachtem Brot und Ziegenfrischkäse. Auf unsere Anfrage hin ist sie bereit, uns ein bisschen etwas aus ihrem Leben zu erzählen. Das folgende Interview gab sie uns mit ihrem jüngsten Sohn an ihrem Kleiderzipfel hängend, umringt von ihren Ziegen, scherzend mit ihrem Mann. Übersetzt wurde es für uns von unserem lokalen Kontakt.

Wo bist du geboren? Im Krankenhaus in Hebron. Ich bin aufgewachsen in einer BeduinInnengemeinschaft, die in der Nähe von Hebron lebte. Meine Familie musste fliehen, als unsere Zelte von der israelischen Armee zerstört wurden. Wir zogen nach Khan al Ahmar (eine größere BeduinInnengemeinschaft nahe Jerusalem).

Wann bist du nach Ein Ar Rashash gezogen und warum? Ich bin 2002 nach Ein Ar Rashash gezogen, nachdem ich meinen Ehemann heiratete. Wir haben uns in Khan al Ahmar kennengelernt. Er kam in den 90ern nach Ein Ar Rashash.

Kannst du uns ein bisschen was über deine Familie erzählen? Der Rest meiner Familie lebt in Isaria (östlich von Jerusalem). Sie leben jetzt in Häusern.

Lebst du lieber in einem Haus oder einem Zelt? Ein Haus ist besser als ein Zelt. Ich sage meinem Mann immer, er soll uns ein Haus bauen. (Sie sagt den letzten Satz ironisch. Sie und ihr Mann lachen sich dabei an.)

Wie schaut ein normaler Tag für dich aus? Ich wache auf, bereite den Brotteig vor, füttere und melke die Ziegen, backe Brot und stelle Käse sowie Joghurt her. Den Rest des Tages mache ich meine Hausarbeiten im Zelt und koche Abendessen für meine Familie. Jeder Tag ist gleich.

Das klingt nach einem vollen Tag… Ja, ich arbeite hart. Nur während des Ramadan habe ich mich etwas ausgeruht und weniger gearbeitet.

Wir wissen, dass eure Lage hier schwierig ist. Wir haben schon viel darüber mit deinem Ehemann gesprochen. Wie ist es für dich? Ich sorge mich den ganzen Tag um meinen Mann und meinen Sohn. Den ganzen Tag schaue ich nach Osten (in die Richtung der Weidegründe). Ich höre erst auf mich zu sorgen, wenn sie zurück sind. Mein eines Auge gehört meinen Kindern, das andere den Hügeln (die Weidegründe).

Gibt es Dinge, die du gerne tun möchtest, aber auf Grund der Situation hier nicht tun kannst? Ich würde gerne ein Picknick machen. Früher gingen wir mit der ganzen Familie in den Hügeln picknicken. Jetzt kann ich unser Zeltdorf nicht mehr verlassen, es ist zu gefährlich. Wenn mein Mann zum Ein- und Verkaufen in die nahegelegenen Dörfer fährt, telefonieren wir die ganze Zeit miteinander, damit er schnell zurück ist, wenn etwas passiert. Vor Elhanan bin ich auch mit den Ziegen hinausgegangen. Manchmal war ich allein mit ihnen ganz hinten in den Hügeln. Jetzt bin ich nur noch hier. Dank Elhanan muss ich den ganzen Tag zu Hause bleiben …. Er gibt mir eine Pause von der anstrengenden Arbeit des Ziegenhütens … (den letzten Teil des Satzes sagt sie ironisch, als ein Witz, ihr Mann und der Dolmetscher lachen herzlich).

Was wünschst du dir für die Zukunft deiner Kinder? Was sich jede Mutter wünscht: ich hoffe, dass sie wachsen und etwas aus ihrem Leben machen. (Während sie den letzten Satz spricht wendet sie sich ab und hat feuchte Augen, ihr Mann schaut in die Ferne.)

Frauen in den BeduinInnengemeinschaften der Westbank sind dreifach marginalisiert. Sie sind als arabische Bewohnerinnen der West Bank der Willkür der israelischen Besatzung ausgeliefert. Die BeduinInnen sind innerhalb der palästinensischen Bevölkerung eine Randgruppe und in der konservativen Gesellschaft der meisten BeduinInnenenfamilien haben Frauen deutlich weniger Rechte und Freiheiten als Männer.1
Wenn die Mutter der Familie in dem Interview beschreibt, wie ihr Lebensraum kleiner wurde, bis er sich nur noch auf das eigene Zuhause erstreckte, so beschreibt sie damit eine Entwicklung, die die Organisation BIMKOM (Planners for Planning Rights, israelische Menschenrechtsorganisation) auch bei anderen Beduinenfrauen, die in ihrer Lebensgeschichte der Vertreibung durch die israelischen Streitkräfte ausgesetzt waren, beobachtet hat.1 Die anhaltende Besatzung der Westbank und deren illegale Besiedlung durch jüdische SiedlerInnen verschlechterte die Lebensbedinungen von Beduinenfrauen – einer ohnehin schon gefährdeten Gruppe.

Quellen:

  1. ”The effect of forced transfer on Bedouin women”, Bimkom 2017