In den Hügeln von Ein Ar Rashash: Schutz durch Anwesenheit in der West Bank (1/5)

Verfasst von - 27. Juni 2019 - Aktuell vor Ort, Archiv

Dies ist der erste Blogbeitrag einer Freiwilligen aus Österreich, die derzeit mit EAPPI in Yanoun ist. In den nächsten Wochen folgen vier weitere Beiträge, die aufeinander aufbauen.

Internationales Recht verbietet einer Besatzungsmacht ihre eigene Bevölkerung in den von ihr besetzten Gebieten anzusiedeln1. Trotzdem lebten 2018 schätzungsweise 622.670 israelische BürgerInnen in der West Bank, verteilt auf 131 Settlements und ca. 110 Outposts (Siedlungen, die nicht offiziell von der Regierung anerkannt wurden und oft bedeutend kleiner als die von Israel anerkannten Siedlungen sind). 2 Während meiner Zeit hier als Ökumenische Begleiterin (EA) habe ich die Gelegenheit über einen Zeitraum von drei Monaten mitzubekommen, wie der Landraub durch SiedlerInnen in den besetzen Gebieten abläuft. In fünf Beiträgen werde ich die Situation einer Beduinenfamilie beschreiben, die in einer Zeltstadt im Regierungsbezirk Rammallah lebt und nahezu täglich Angriffen von SiedlerInnen ausgesetzt ist.

„Wo soll ich hingehen? Es gibt keinen anderen Platz für uns.“ Sorgenvoll schaut Abu Rahed seinem 15-jährigem Sohn und seinen Neffen hinterher, als diese ihre Ziegenherden durch die karge Hügellandschaft von Ein Ar Rashash treiben. Abu Rahed ist Mitglied einer 120-köpfigen BeduinInnengroßfamilie. Fünf Mal ist die Familie seit der Staatsgründung Israels 1948 von ihren Weideflächen vertrieben worden: von der Negev-Wüste in ein Dorf bei Beersheba, dann in die Region Hebron, später in die Nähe von Yatta, anschließend nach al-Khan al-Ahmar. Seit neunzehn Jahren leben sie nun in den Hügeln von Ein Ar Rashash in ihren Zelten. Sie haben keinen Anschluss an das öffentliche Stromnetz oder die Wasserversorgung. Die Kinder des Dorfs reiten auf Eseln in die mehrere Kilometer entfernte Schule des nächsten Ortes.

Es ist schwierig in der West Bank nachzuweisen, dass ein Land Privatbesitz ist. Die Rechtslage ist komplex und beruht auf einer Mischung aus jordanischem, osmanischem und britischem Kolonialrecht, ergänzt durch Militärverordnungen der israelischen Besatzungsmacht2. Diese Situation erschwert es den PalästinenserInnen sich gegen Landraub zu wehren. Wa`il Qut, ein Anwalt von JLAC (Jerusalem Legal Aid & Human Rights Center), erklärte uns, dass dies BeduinInnenfamilien in eine besonders unsichere Position bringt. Als oft mehrfach vertriebene Flüchtlinge haben sie keinen Privatbesitz, auf dem sie leben können, und nicht die finanziellen Mittel Land zu pachten. Dies zwingt sie oft ohne Pachtverträge auf Land zu leben, dessen Besitzstatus unklar ist. Sie sind bedroht von erzwungen Hauszerstörungen und erneuter Vertreibung.

Die BeduinInnenfamilie lebt und weidet ihre Tiere in Ein Ar Rashash auf Ländereien, die Privatpersonen aus den nahelegen Dörfern gehören, manche der BesitzerInnen leben im Ausland. Es war ihnen (den BesitzerInnen) bisher noch nicht möglich nachzuweisen, dass die Ländereien ihr Privatbesitz sind. Dies bedeutet eine erhöhte Gefahr des Landraubs durch SiedlerInnen.

Ihren Lebensunterhalt verdienen sich die BeduinInnen mit ihren Ziegenherden in den Weidegründen um Ein Ar Rashash. Eine weitläufige karge Hügellandschaft, durchzogen von tiefen Schluchten und Höhlen. Von den Kuppen der Hügel bietet sich einem an klaren Tagen eine beeindruckende Weitsicht in das Jordantal mit den Bergen Jordaniens im Hintergrund. In unmittelbarer Nähe zum Weideland, etwa 2 Kilometer entfernt, liegt ein Militärcamp der israelischen Armee. Im Alltag der Beduinen spielten die SoldatInnen nie eine große Rolle, sie erlaubten ihnen bis unmittelbar vor ihren Sicherheitszäunen ihre Ziegen zu weiden.
Ihre Situation verschlechterte sich dramatisch vor drei Jahren, als der Israeli Elhanan beschloss mit seiner Familie in das Weideland von Ein Ar Rashash zu ziehen. Er errichtete direkt neben dem Militärcamp Wohngebäude, die sowohl nach israelischem als auch nach internationalem Recht illegal erbaut sind.
Seit ca. einem Jahr begann Elhanan, unterstützt von mehreren jungen Männern, die Beduinen aktiv von ihren Weideflächen zu vertreiben. Gemeinsam mit der israelischen Grass-root-Organisation Ta`ayush (arabisch für „miteinander leben“) begleiten wir von EAPPI seither die Einheimischen mehrmals in der Woche beim Hüten ihrer Ziegen. Als internationale BeobachterInnen versuchen wir sie vor den schlimmsten Belästigungen der SiedlerInnen zu schützen.

Abu Rahed mit Sohn und Neffe in ihren Weidegründen im Mai 2019 (Foto: EAPPI/ privat)

Zu Beginn unseres Aufenthaltes lief ein klassischer Tag in Ein Ar Rashash in etwa so ab: Wir starten in der Früh mit den BeduinInnen von ihren Zelten und begleiten sie zu den in dieser Zeit noch saftig grünen Weidegründen. All unsere Bewegungen werden von der nahegelegenen Hügelkuppe von dem Siedler Elhanan beobachtet. Sobald die Beduinen ihr Ziel erreicht haben, beginnen junge Siedler, beritten auf Pferden, ihre Schafherde in die unmittelbare Nähe der Herden der Beduinen zu treiben. Kurz danach trifft Elhanan persönlich ein, er ist bewaffnet und beginnt die Beduinen und uns zu bedrohen, dass wir die Gegend sofort zu verlassen haben. Einen meiner Kollegen bedrohte er: „Du bist hier nicht sicher, du solltest zurück in dein Land gehen!“ Dabei geht er umher und filmt bzw. fotografiert alle. Nach einigen Minuten ruft er das Militär an, kurze Zeit später erscheinen SoldatInnen. Sie erklären die Gegend zu einer „gesperrten militärischen Zone“ und fordern uns sowie die Beduinen auf, die Gegend unverzüglich zu verlassen. Je nach Persönlichkeit der SoldatInnen kann diese Kommunikation nüchtern und sachlich ablaufen oder aggressiv und einschüchternd. Die Konsequenzen sind aber die gleichen, wir und die AktivistInnen von Ta`ayush müssen die gesamte Gegend verlassen. Die Beduinen sind gezwungen ihre Ziegenherde weiter hinein in die Hügel zu treiben zu mageren Weideflächen. Dem israelischen Militär ist es erlaubt einen Ort zur „gesperrten militärischen Zone“ zu erklären, wenn es die Gegend entweder zu militärischen Übungen benötigt oder ein unmittelbares Sicherheitsrisiko besteht. Stellt sich die Frage, warum die SiedlerInnenfamilie um Elhanan immer in der gesperrten Zone verbleiben durfte.

Die SiedlerInnen und ihre Schafherde kommen auf die Beduinen zu/ April 2019 (Foto: EAPPI/privat)

Es fällt mir schwer die Willkür des Militärs und die fehlende Rechtssicherheit für die Familie von Abu Rahed zu akzeptieren. Die ersten Wochen versuchte ich die Rechtslage zu verstehen und herauszufinden, welche staatliche Behörde die BeduinInnen beschützen kann – ich suchte nach einer Lösung. Aufgewachsen in Europa mit funktionierender Gewaltenteilung und einem Rechtssystem, das meist erfolgreich allen Menschen die gleichen Rechte garantiert, war es für mich eine schockierende Erfahrung zu erleben, wie ist es ist, wenn dieser Schutz nicht gegeben ist.

Erst langsam beginne ich zu realisieren, es gibt kein gerechtes und unabhängiges Rechtssystem, an das sich Abu Rahed wenden kann, es gibt keine Polizei, die ihn und seine Familie vor Elhanan schützt, nur ein Militär, das wegschaut oder die SiedlerInnen sogar aktiv bei ihren Tätigkeiten unterstützt. Ich versuche mir vorzustellen, wie es für die Kinder der BeduinInnenfamilie sein muss hilflos den täglichen Aggressionen der SiedlerInnen ausgesetzt zu sein und die Machtlosigkeit der eigenen Eltern mit zu erleben.

Hier geht es zum zweiten Teil der Beitragsserie: “Selig, die das Recht bewahren, die Gerechtigkeit üben zu jeder Zeit” (Psalm 106,3)

Quellen:

  1. „The Wall and the Gate“ von Michael Sfrad (2018)
  2. Zahlen zu SiedlerInnen und Settlements in den West Banks: https://www.btselem.org/settlements/statistics
  3.  “Housing, Land and Property in the West Bank Area C” von Norwegian Refugee Council (2015)

Ta’ayush: https://www.taayush.org/