Die rechte Organisation Im Tirtzu ist zu „Besuch“ in Ein Ar Rashash (4/5)

Verfasst von - 29. Juli 2019 - Aktuell vor Ort, Archiv

Dies ist der vierte Blogbeitrag einer Freiwilligen aus Österreich, die auf Einsatz mit EAPPI ist. Insgesamt bauen fünf Blogbeiträge aufeinander auf. Hier geht’s zu dem ersten Beitrag: In den Hügeln von Ein Ar Rashash: Schutz durch Anwesenheit in der West Bank, zu dem zweiten Beitrag: “Selig, die das Recht bewahren, die Gerechtigkeit üben zu jeder Zeit” (Psalm 106,3) und dem dritten Beitrag: Gesperrte Militär-Zonen, Outposts & Siedlungen.

Zum Eid-Fest am Ende des Fastenmonats Ramadan wurden wir von der BeduinInnenfamilie in Ein Ar Rashash zu einem großen Frühstück eingeladen. Alle Männer der Familie bewirteten uns in einem großen Zelt. Zur Feier des Tages hatten sie ein Zicklein für uns geschlachtet. Es herrschte eine sehr gelöste Stimmung und wir fühlten uns wertgeschätzt von der Familie. Selbst die Tatsache, dass die Frauen nie in direkten Kontakt mit uns treten und immer im Hintergrund bleiben, irritiert mich nicht mehr so sehr wie am Anfang meiner Zeit hier.
Zwei Tage später kommen wir gemeinsam mit AktivistInnen von Ta`ayush früh um sechs zu den Zelten der Familie von Abu Rahed, treffen aber nur seine Frau und seine Kinder an. Keine Spur von Abu Rahed und seinen Ziegen.
Seine Frau berichtet uns, jedes Jahr im Sommer ziehen die Männer der Familie für zwei Monate mit ihren Herden in entfernt gelegene Weidegründe und schlafen auch dort. Erst im Herbst kommen sie zurück. Außerdem berichtet uns die Mutter der Familie besorgt, dass gestern ein Mitarbeiter des Schabak (israelischer Geheimdienst) ins Lager kam und nach Informationen über die Ta`ayush AktivistInnen fragte. Unsere erste Reaktion ist Erstaunen und Ärger. „Warum haben sie uns das nicht früher mitgeteilt, warum diese Entscheidung nicht mit uns diskutiert?“ Nun wird Elhanan zwei Monate Zeit haben, die ganzen Weidegründe für sich zu beanspruchen. Er wird mit seiner Herde immer näher an die BeduinInnenzelte heranrücken und wenn die BeduinInnen zurück kommen wird es wesentlich schwieriger für sie sein ihr Land zu nutzen.
Nach ein, zwei Minuten Nachdenken verfliegt unsere Enttäuschung. Erstens, wir sind hier, um die BeduinInnen mit unserer Anwesenheit zu beschützen, nicht um ihnen zu sagen, was sie zu tun haben. Die BeduinInnen sind NomadInnen, das Umherziehen ist Teil ihres jahrhundertealten Lebenswandels. Sollen sie diesen Lebensstil für Elhanan aufgeben? Ist es nicht verständlich, dass sie sich nach zwei friedvolleren Monaten sehnen? Andererseits, die Situation ist, wie sie ist, wenn sie nicht wieder vertrieben werden wollen, müssen sie um ihr Land kämpfen und können es nicht einfach den SiedlerInnen überlassen.
Die schwierige Entscheidung, was die richtige Wahl ist, kann ich von außen kommend nicht beurteilen.
Nach mehreren Telefonaten und Gesprächen mit den Männern beschließen sie in ein paar Tagen einen ihrer Hirten zu den Zelten zurück zu schicken, dieser wird mit einer kleinen Herde der jungen Ziegen auf die normalen Weidegründe ziehen und sich Elhanan stellen.

Neben den BeduinInnen ziehen auch SchäferInnen aus dem nahegelegenen Ort Al Mughayyir in die Weidegründe Ein Ar Rashashs. Allerdings gehen sie nicht so weit wie die BeduinInnen, sondern bleiben am Anfang der Hügel nahe bei der Zeltstadt. Früher gingen auch sie weiter hinein, aber die Angst vor Elhanan und dem israelischen Militär hält sie zurück. Im Gegensatz zu Abu Rahed und seiner Familie besitzen sie Häuser und Felder in ihrer Ortschaft. Sie haben also eine Alternative und sind nicht so sehr auf Ein Ar Rashash angewiesen.

An dem Tag, an dem die BeduinInnen nicht da waren, begleiteten wir stattdessen diese Schäfer bei ihrer Arbeit. Elhanan wartete mit seinen Schafen am gewohnten Ort. Als er realisiert, dass wir nicht kommen werden, steigen er und ein anderer Mann in sein geländegängiges Golfgefährt und fahren auf uns zu. Der zweite Mann entpuppt sich als der vermeintliche Schabak Offizier, den die AktivistInnen von Ta`ayush aber sofort als Yehuda Sharabany von Im Tirtzu identifizieren.

Der Name Im Tirtzu ist abgeleitet von einem Zitat Theodor Herzls: “If you will it, it is no dream“. Es handelt sich um eine israelische NGO, deren selbsterklärtes Ziel es ist, die Werte des Zionismus in Israel und Israel als einen jüdischen und demokratischen Staat zu stärken. Als eine ihrer Aufgaben sehen sie es, den zionistischen Charakter Israels vor Attacken aus der israelischen Gesellschaft und dem Ausland zu schützen.1  Beim Lesen ihrer Website und beim Sehen ihrer Videos auf YouTube entsteht der Eindruck, dass für sie jegliche Kritik an der Besatzung, den illegalen Settlements oder der israelischen Armee eine Delegitimierung des Existenzrechts Israels ist.2
Professor Dr. Amal Jamal beschreibt die Strategien von Im Tirtzu: Delegitimieren israelischer Menschenrechtsorganisationen in der israelischen Öffentlichkeit durch gezielte PR-Kampagnen, Lobbyarbeit gegen eben jene Organisationen im Ausland, die Beschneidung der finanziellen Ressourcen bestimmter NGOs und enge Zusammenarbeit mit politischen EntscheidungsträgerInnen. Dies ermöglicht ihnen teilweise ihre Anliegen in legislative Prozesse zu übersetzen. 3

All diese Strategien arbeiten damit, ihren GegnerInnen vorzuwerfen antisemitisch und gegen den Staat Israel zu sein.4

Was die nächsten eineinhalb Stunden, nachdem uns Elhanan und Yehuda Sharabany erreichen, passiert, lässt sich nur als bizarr beschreiben. Es wird keine Minute vergehen, in der nicht gefilmt wird, keine Sekunde, in der nicht alle Anwesenden haarscharf beobachten, was die anderen Personen um sie herum tun.
Yehuda Sharabany beginnt sofort mit drei Kameras zu filmen und uns verbal anzugreifen. Er hat eine Gopro auf seinem Kopf, eine Kamera und sein Handy in jeweils einer Hand. Auch wenn er nicht körperlich gewalttätig wird, versucht er uns doch zu bedrohen, indem er so nahe wie möglich auf uns zugeht, uns drei Kameras ins Gesicht hält und dabei filmt. Es ist klar, dass die AktivistInnen von Ta`ayush sein Hauptziel sind. Er beleidigt sie und auch uns die ganze Zeit, dabei beschuldigt er uns falscher Tatsachen und erzählt Lügen. Wir filmen zurück und schweigen, da der Großteil der Konversation auf Hebräisch stattfindet. Die Aktivisten von Ta`ayush filmen und diskutieren mit ihm. Wir verstehen nur Ausschnitte des Gesagten, da beide Seiten manchmal ins Englische wechseln und wir nachher eine zusammengefasste Übersetzung bekommen.
Yehuda Sharabany beschuldigt Ta`ayush, Volksverräter zu sein, die gegen Israel sind und die Arbeit des Militärs verhindern. Mehr als einmal hält er mir seine Kamera nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt hin und erklärt mir: „You are an anti-Semite! Go back to Europe! Go back! Anti-Semite go back!” Auf Hebräisch erklärt er, dass wir alten, berühmten Nazifamilien entstammen und selbst überzeugte Nazis seien. Er tut alles in seiner Macht Stehende um uns zu provozieren und zu unüberlegten Handlungen zu verleiten. Die palästinensischen Schäfer interessieren ihn überhaupt nicht, das ist der gute Part der Geschichte. Während er mit uns beschäftigt ist, können sie ungestört ihrer Arbeit nachgehen.

Im Tirtzu filmt und beleidigt die Autorin des Beitrags, Foto: EAPPI/ privat

Nachdem Yehuda Sharabany genug Bildmaterial gesammelt hat, ziehen er und Elhanan ab. Später sitzen wir mit den AktivistInnen von Ta`ayush im Beduinenzelt. Sie laden ihre Videos der Situation auf Facebook hoch. Sie finden heraus, dass Im Tirtzu ein Video mehr oder weniger live hochgeladen hat. Nach 30 Minuten hatte es mehrere tausend Klicks. Ein beunruhigender Gedanke, dass so viele Menschen mich in einem Video gesehen haben, in dem Falschaussagen über mich verbreitet werden. Es zeigt aber auch, wie effektiv die digitale Rufmordkampagne von Im Tirtzu ist. Ta`ayush und Im Tirtzu versuchen beide juristisch gegen den Anderen vorzugehen, wenn eine Seite Dinge sagt, die nach israelischem Recht illegal sind. Zum Beispiel dürfen sich israelische StaatsbürgerInnen nicht gegenseitig als Nazis bezeichnen, wohl aber als Neo-Nazis. Was dazu führt, dass beide Seiten stets filmen, um nachweisen zu können, dass sie Neo-Nazi sagten, wenn in einem möglicherweise veröffentlichten Video das „Neo“ absichtlich herausgeschnitten wurde.

Sharabany filmt Ta’ayush Aktivisten, Foto: EAPPI/ privat

Am Abend jenes Tages vor dem Einschlafen denke ich über die Anschuldigung nach, eine Antisemitin und Nazi zu sein, weil ich die Menschenrechtsverletzungen Israels in den von ihm besetzten Gebieten dokumentiere. Ich bin mit dem Mantra des „Nie wieder!“ aufgewachsen, nie wieder ein Holocaust, nie wieder ein faschistisches Regime in Deutschland. Von klein auf brachten mir meine Eltern bei, dass alle Menschen gleich sind und die gleichen Rechte verdienen. Sie lehrten mich die Verbrechen des Naziregimes als eindrückliche Warnung zu sehen, was passiert, wenn Gesellschaften diese Rechte missachten. Aufgrund der Vergangenheit meines Geburtslands, aber auch aus persönlicher Überzeugung erkenne ich Israels Existenzrecht an und sehe mich verpflichtet Antisemitismus zu bekämpfen, wenn ich ihm begegne.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen. Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 1 und 2) Ich glaube an die Menschenrechte und bin überzeugt, dass eine Welt, in der diese Artikel für alle Menschen verwirklicht wären, ein besserer Ort für uns alle wäre.

Aus den Verfehlungen der Generation meiner Groß-/Urgroßeltern zu lernen, heißt für mich, mich für die Rechte und die Freiheit eines jeden Menschen einzusetzen.
In Ein Ar Rashash versuchen wir die Menschenrechte von Abu Raheds Familie und die der anderen palästinensischen SchäferInnen zu beschützen – Seite an Seite mit jüdisch-israelischen AktivistInnen. Ich kann nicht erkennen, was daran antisemitisch sein mag, geschweige denn nationalsozialistische Überzeugungen wiedergibt.

Hier geht es zum fünften Teil der Beitragsserie: Ein Auge auf meine Kinder, das andere auf die Hügel!

Quellen:

  1. Website: Im Tirtzu – building the Zionist dream, besucht am: 16.06.2019
    https://imti.org.il/en/about-us/movement/
  2. Youtube: “Im Tirtzu who we are”, besucht am 16.06.2019
    https://www.youtube.com/watch?v=O1QcCEFAwqE
  3. Jamal, A. (2018). The rise of „bad civil society“ in Israel: nationalist civil society organizations and the politics of delegitimization. (SWP Comment, 2/2018). Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik -SWP- Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit.
    Https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-56079-
  4. Interview mit Amal Jamal, veröffentlicht am 20.12.2018
    http://www.taz.de/Situation-von-NGOs-in-Israel-und-Palaestina/!5559225/