Ich bin vor zwei Monaten auf einen 3-monatigen Einsatz für EAPPI (dem ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel) in die Region South Hebron Hills in Palästina gekommen. Ich wohne in Yatta, einer weitläufigen Stadt im südlichsten Zipfel der Westbank. Wenn man sich Palästina auf der Landkarte ansieht und den Kopf schiefhält, kann man mit einiger Fantasie eine Ähnlichkeit mit Österreich feststellen – Yatta wäre dann ungefähr dort, wo in Österreich Vorarlberg ist. Die Stadt liegt südlich von Hebron (Al Khalil), bekannt durch die Gräber der Patriarchen Abraham und Sarah. Wie überall in Palästina verzeichnet die Stadt ein starkes Bevölkerungswachstum – laut Wikipedia hatte Yatta 1967 nur über 6.000 Einwohner; heute leben hier, saisonal unterschiedlich, siebzig- bis hundertzwanzigtausend Menschen.
Yatta und die Region South Hebron Hills liegen auf einem steinigen Plateau in über 800 m Seehöhe, wobei die Landschaft gegen die Grenze zu Jordanien und Israel einen zunehmend wüstenartigen Charakter aufweist. Wenn wir von dem Dach unseres Hauses auf Yatta und Umgebung blicken, oder von den Hügeln auf die von weitem fast von überall sichtbaren flachen Dächer der großen Stadt, ist alles weißlich-grau-gelblich-braun, immer wieder aufgelockert durch das Grün der Olivenbäume. Man ahnt: die Wüste ist nicht weit.
Wie bekannt, ist dieser Teil Palästinas so wie die gesamte Westbank, Ost-Jerusalem, der Gazastreifen und die Golanhöhen seit dem 6-Tage-Krieg 1967 von Israel besetzt. Ich bin mit dem Wissensstand einer durchschnittlichen Medienkonsumentin hierhergekommen und wusste, abgesehen von einer Trennbarriere zwischen Israel und den besetzten Gebieten (bekannt als „Mauer“), nichts über die große Anzahl massiver Behinderungen und Einschränkungen, mit denen die Menschen hier leben müssen.
Eine dieser harschen Maßnahmen, von denen ich vorher nie gehört oder gelesen hatte, sind die sogenannten demolitions – Zerstörung und Abriss von Gebäuden und lebensnotwendigen Einrichtungen (Zisternen, Brunnen, Wassertanks, Windräder, Solarplatten, Batterien, Wege). Auf unserem Diensttelefon bekommen wir dann folgende Meldungen von dem Büro der Vereinten Nationen zur Koordinierung Humanitärer Hilfe in den besetzten palästinensischen Gebieten (OCHAoPt): „Alert: ongoing demolition, ongoing confiscation…“
In den South Hebron Hills sind viele Menschen von solchen demolitions betroffen. Hier leben in teils unwegsamem, schwer zugänglichem Gelände einige tausend Menschen in sogenannten hamlets – das sind Siedlungen (Dörfer), die aus einigen wenigen kleinen Behausungen wie Hütten, Zelten, Höhlen und Ställen bestehen. In manchen dieser entlegenen Dörfer gibt es eine kleine Schule und auch eine mobile Einrichtung für die medizinische Versorgung. Die Menschen betreiben hauptsächlich Schafzucht, haben vielleicht vereinzelt Olivenbäume und bauen auf dem kargen Boden in den Tallagen Weizen an. Manche der Jüngeren haben eine Arbeit in der Stadt oder in Israel. Die Familien leben schon seit Generationen hier und hängen an ihrem Land – immer wieder höre ich Sätze wie “das Land hat schon meinem Großvater gehört” oder “es ist schwer, aber wir machen weiter”…
Das Gebiet liegt in der sogenannten „Zone C“ und steht unter voller israelischer Kontrolle. Der unwegsamste Teil im Süden wurde zum Sperrgebiet für militärische Übungen erklärt, wodurch die Bewohner*innen in hohem Maß von der Zerstörung oder dem Abriss ihrer Einrichtungen bedroht sind. Ein kompliziertes und für mich nicht durchschaubares Raumplanungs- und Rechtssystem macht es den Menschen fast unmöglich, Baugenehmigungen zu bekommen – also bauen sie illegal. Die Folge: eine sogenannte demolition order oder stop work order – ein an der Tür aufgehängter Zettel genügt. Die Bewohner*innen wissen dann zwar, dass ein Abriss droht, aber sie wissen nicht, wann das sein wird. Es kann lange dauern oder ganz schnell gehen (in der Regel nehmen die Betroffenen eine von verschiedenen Organisationen vermittelte Rechtshilfe in Anspruch). Der tatsächliche Abriss findet oft ohne vorherige Ankündigung statt – auch in der Nacht – und lässt die Menschen vor den Trümmern ihrer Behausungen zurück…
Vor einigen Wochen wurden wir in der Früh in die Nähe von Susiya, ca. 30 km südlich von Yatta, gerufen. Dort wäre der Abriss eines Zeltes in vollem Gang hieß es in der SMS von OCHAoPt. Im konkreten Fall betraf es eine Familie mit vier Kindern, die dicht an der zur nahegelegenen israelischen Siedlung führenden Straße in einem mit einer Plane überdachten Geviert aus losen Steinen, ca . 10 qm groß, gewohnt hatte; daneben war ein aus Steinmauern errichteter kleiner Stall für die Schafe. Als wir ankamen, saßen die Frau und ihr Mann auf einem großen Stein vor ihrer zerstörten Behausung. Der Mann telefonierte ständig, seine Frau saß daneben und starrte auf das, was auch wir sahen: am Boden die zerfetzte Plastikplane, die als Dach gedient hatte, und daneben ein paar zerschlissene Matratzen und sonstigen dürftigen Hausrat. Die Soldaten wären vor einer Stunde gekommen, erzählte die Frau, und hätten ohne ein Wort zu sprechen die Plane heruntergerissen und alles auf den Boden geschmissen. Das Ganze muss ihrer Schilderung nach sehr schnell gegangen sein. Sie war allein, als die Soldaten gekommen sind, konnte ihren Mann aber per Handy verständigen; die Kinder waren schon in der Schule. Wir fragten die Frau, ob sie Hilfe brauche, was sie verneinte – ihr Mann hätte schon mit dem für die Bewohner des Dorfes zuständigen Rechtsanwalt Kontakt aufgenommen. Bevor wir gegangen sind, habe ich sie noch gefragt, ob die Zerstörung ihres Zuhauses nicht ein großer Schock für sie war. Die Frau wirkte sehr gelassen und sagte nein, es wäre kein Schock gewesen, solche Ereignisse sind nichts Neues für sie.
Inzwischen sind einige Wochen vergangen. Unlängst kamen wir beim Schafe hüten an dieser Stelle vorbei. Vor den Resten der Steinmauer war ein Mast mit der israelischen Flagge aufgestellt worden. Der Ort wirkte verlassen, die zerschlissenen Matratzen und sonstiger Mist lagen immer noch am Boden herum. Es gab auch noch ein altes Sofa. Wir haben uns hinein gesetzt und die Abendsonne auf uns scheinen lassen. Ein Bub, der beim Schafe hüten geholfen hat, ist vorbeigekommen. Ich habe ihn nach der Familie gefragt. Die Familie wäre weggegangen, sagte er, wohin wüsste er nicht. Ein paar Schafe aus der Herde waren auch da und haben begonnen, die zwischen dem Müll wachsenden trockenen Halme zu fressen…