Ich bin überwältigt von der grenzenlosen Gastfreundschaft der Palästinenser_innen. Sie nimmt mich in die Arme und schenkt mir in Hebron, auf Arabisch Al Khalil, ein zweites Zuhause. Nie ist die Zeit zu knapp, das Geld zu gering, um eine/n Fremde/n auf ein heißes Getränk einzuladen. Umhüllt vom Aroma frisch aufgebrühten arabischen Kaffees erzählen mir die Menschen ihre Geschichten über Vergangenes, Verlorenes und Zukünftiges. Möchtest du etwas über die Gegenwart Palästinas erfahren, setze dich hin, genieße deinen Kaffee und höre gut zu.
Saad ist ein junger Palästinenser, der gemeinsam mit seinem Vater ein kleines Geschäft in der Altstadt Hebrons betreibt. Sie stellen aus buntem, in Flaschen gefülltem Sand kleine Kunstwerke her.
Saad und sein Vater haben bereits einige Teams des EAPPI-Projektes kennengelernt und Saad erkennt uns beim Vorbeigehen sofort an unseren Westen. Er lädt uns in sein kleines Geschäft ein, und während ich meinen fünften Kaffee an diesem Tag trinke, zeigt er uns, wie seine Kunstwerke entstehen. Doch etwas anderes zieht zusätzlich meine Aufmerksamkeit auf sich. Mein Blick ist direkt auf die so typische enge Einkaufsstraße gerichtet, und dabei fällt mir auf: es kommt keine/r vorbei. Keine Tourist_innen, kaum Einheimische, und damit keine potenziellen Käufer_innen für das überlebenswichtige Weihnachtsgeschäft.
Hebron ist mit einer Einwohner_innenzahl von etwa 250.000 Menschen die größte Stadt in der Westbank. Sie ist Epizentrum religiöser wie auch politischer Interessen und wurde Zeugin erbitterter Konflikte. Ein Grund für die Streitigkeiten ist die Ruhestätte Abrahams, Erzvater des Judentums und Stammvater des Islams. Beide Religionen sind vereint in ein und demselben Baukomplex mitten in der Altstadt, in der Nähe von Saads Geschäft. Auf der einen Seite die Synagoge der Höhle Machpela, auf der anderen Seite die Abraham-Moschee. Beide getrennt durch Checkpoints und Kontrollen.
Im Jänner 1997 unterzeichnete Israel gemeinsam mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ein Abkommen, das die Verwaltung Hebrons in die Zonen H1 und H2 aufsplitterte. Seither verwaltet die palästinensische Polizei (PPF) H1 und Israel kontrolliert die Zone H2, die die gesamte Altstadt umfasst. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Abraham-Moschee. Sie wird aktuell von sieben Checkpoints eingeschlossen, die den Zugang zur Moschee erschweren. Immer wieder kommt es zu Eskalationen zwischen Siedler_innen und Palästinenser_innen.
Aktuell leben an die 800 Siedler_innen direkt in der Altstadt. Sie beanspruchen die Ruhestätte von Erzvater Abraham für sich, weshalb sie sich in ihrer Nähe niedergelassen haben. Dadurch ist Hebron die einzige Stadt im Westjordanland, in der sich israelische Siedler_innen, Soldat_innen und Palästinenser_innen die Altstadt teilen.
Heute gibt es in H2 rund 120 Barrieren, von denen 18 fixe Checkpoints darstellen. Fast alle Barrieren konzentrieren sich in der Altstadt, und machen den Durchgang zu den wichtigsten Einkaufstraßen unmöglich, mit fatalen Folgen für Ladenbesitzer wie Saad.
Barrieren, unüberwindliche Checkpoints, steigender Hass zwischen beiden Bevölkerungsgruppen, verunsicherte Soldat_innen, Gewaltausbrüche und eine steigende Zahl an Toten haben dazu geführt, dass sich Einwohner_innen wie auch Tourist_innen von der Altstadt Hebrons fern halten. Während ich diese wunderschönen alten Straßen entlang gehe, finde ich ein geschlossenes Geschäft nach dem anderen vor. Lokalbesitzer_innen erzählen mir vom mangelndem Verkauf, und damit einhergehender Subsistenzangst. Saad ist nicht alleine.
Heute wird die Altstadt von Palästinenser_innen Ghost City genannt. Während ich meinen Kaffee fertig schlürfe, überkommt mich eine unendliche Traurigkeit, denn mir wird klar, warum sie als Ghost City bezeichnet wird. Eine Altstadt nur noch bewohnt von Geistern, die einst Teil einer lebendigen Stadt waren. Saad, wie auch alle anderen Ladenbesitzer, wird kein Weihnachtsgeschäft erleben. Sie sind Opfer eines unfairen Kampfes, politischer Interessen und blinden Hasses.
Saad wird mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben als der Geist der Weihnacht, dem ich in der für mich schönsten Altstadt begegnen durfte.
Foto: Mia Haglund