von Evelyn Kulmer
Als Teilnehmerin am Ökumenischen Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Weltkirchenrates war ich von Mitte Jänner bis Mitte April mit meinen Teamkolleg:innen in Bethlehem und Umgebung unterwegs, um über die Friedensarbeit in Israel und Palästina zu lernen, über das Leben unter Besatzung zu erfahren und Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Wir trafen israelische und palästinensische Aktivist:innen, die sich unermüdlich für Frieden einsetzten. Wir vernetzten uns mit Menschenrechtsorganisationen in Israel und Palästina, die von Regierungen unter Druck gesetzt wurden und dennoch nicht ihre Arbeit aufgaben.
Mehrmals pro Woche standen wir vor dem berüchtigten Checkpoint 300 zwischen Bethlehem und Jerusalem und beobachteten, wie Palästinenser:innen teils stundenlang in enge Gänge gedrängt ausharren mussten, um zu ihrer Arbeit nach Israel zu gelangen. Wir sahen, wie israelische Soldat:innen mit ihrer Waffe auf Kinder zielten, die gerade auf dem Weg zur Schule waren, oder sie mit ihrem Militärjeep im Schritttempo verfolgten. Wir besuchten ein Dorf, das nur durch die Unterstützung einer niederländischen NGO wieder ihre konfiszierten Solarpanels zurückbekam. In einem anderen Dorf konfiszierten israelische Soldat:innen nicht nur die Solarpanels, sondern zerstörten einige sogar vor den Augen der Besitzer:innen. Wir besuchten eine Familie, der das Militär seit Jahren den Zugang zu einem ihrer Felder mit Olivenbäumen verwehrt. Im Herbst 2022 schnitten sie den Großteil der Olivenbäume um und vernichteten damit auch einen wesentlichen Teil des Einkommens der Familie. Wir sprachen mit einer anderen Familie, deren barrierefreies Haus für ihren erwachsenen Sohn im Rollstuhl abgerissen wurde, und trafen eine 80-jährige Frau, deren Haus, in dem sie ihr ganzes Leben verbrachte, der Abriss noch drohte.
Das ist nur ein Auszug der Menschenrechtsverletzungen, die wir dokumentierten und an verschiedene Organisationen weiterleiteten. Je länger ich dort war, desto schwieriger war es für mich, meine Erfahrungen zu teilen und dabei nicht meine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Zu extrem erschienen manche Geschichten, vor allem in ihrer Gesamtheit, denn wie kann all das vor den Augen der internationalen Gemeinschaft möglich sein und stillschweigend hingenommen werden? Einmal fragte mich jemand, woher wir von EAPPI wissen, dass all die Geschichten auch tatsächlich so passiert seien. „Das können wir nicht immer“, antwortete ich, „aber wenn du dort bist und den Menschen in die Augen siehst, merkt man, was dahintersteckt“. Eine Situation, auf die das zutrifft, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Bei einem Besuch im Jordantal fuhr ich mit dem EAPPI-Team von Jericho zu einer Beduinenfamilie in Mu’arrajat East. Schon bei unserer Ankunft empfand ich die Stimmung als angespannt. Der herzliche Empfang, der uns sonst so oft zuteilwurde, fiel aus. Stattdessen wirkte die Familie irritiert und zögerte zunächst. Nachdem wir uns und EAPPI erklärten, lud uns die Familie schließlich doch ein uns vor dem bescheidenen Haus auf der überdachten Terrasse hinzusetzen und einen Tee zu trinken. Gegenüber von uns saß der Vater der Familie. Er fing an über ihr Leben zu erzählen. Etwas Schweres lag in seiner Stimme. Seine Worte mussten uns übersetzt werden und verschlugen uns zunehmend die Sprache. Er erzählte von täglichen Angriffen und Drohungen der umgebenden Siedler:innen und seinen Versuchen, Hilfe von der israelischen Polizei zu bekommen, die erfolglos blieben. Von der Palästinensischen Autonomiebehörde erhielten sie ebenfalls keine Unterstützung. Somit waren sie auf sich allein gestellt. Mittlerweile wisse er nicht mehr, wo er seine Tiere zum Weiden hinbringen soll. Seine Berichte von Übergriffen und Gewalt nahmen kein Ende. Fast nebenbei erwähnte er, dass sein Hund vor 10 Tagen von Siedler:innen erschossen wurde, der seines Bruders vor einer Woche. Er sei müde von all dem. Wenn er wüsste, wo er mit seiner Familie hingehen könnte, würde er gehen, aber er weiß nicht wohin. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Familie von ihrem Zuhause vertrieben würde. Als seine Vorfahren aus der Negev-Wüste fliehen mussten, wurde ihnen dieses Stück Land versprochen, ohne dass sie jemals Papiere erhalten hätten. „Wir sind traurig und werden noch wahnsinnig. Wir können unsere Tiere nicht füttern. Sie sind unsere einzige Lebensgrundlage“. Seit einem Jahr litt die Familie unter der Aggression der Siedler:innen, die auch vor Kindern keinen Halt kannte. „Ihr bittet uns nicht gewalttätig zu sein? Aber wie soll man Kinder unter Kontrolle halten, wenn sie mit dieser Gewalt aufwachsen?“ Wir konnten ihm keine Antwort liefern. Auch sonst fanden wir kaum Worte. In meinem gesamten Einsatz war ich nie mit einer so großen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit konfrontiert wie in Mu’arrajat East.
Ein Blick von außen
Es sind Begegnungen wie diese, die den jahrzehntelangen Konflikt in Israel und Palästina in ein anderes Licht rücken. Als ökumenische Begleiterin konnte ich Menschen auf Augenhöhe begegnen. Ich hörte zu, lernte und versuchte zu verstehen, um ein Sprachrohr für jene Menschen zu werden, deren Stimmen sonst nicht gehört werden. Zahlen bekommen so Gesichter und Daten werden zu Geschichten. Die Arbeit von EAPPI zeigt auf, dass ein Konflikt nicht nur dann ans Tageslicht kommt, wenn Menschenleben der Gewalt zum Opfer fallen. Er manifestiert sich in allen Facetten des Alltags, wo Menschenrechte verletzt werden, Ungerechtigkeit hingenommen wird und schließlich die Menschlichkeit verloren geht. Es war nicht leicht, sich über drei Monate hinweg so intensiv mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt zu beschäftigen und sich ihm gerade über diese sehr menschliche Art und Weise zu nähern, ohne dabei in Gefahr zu geraten, sich emotional auf einer Seite zu verlieren und die andere zu vernachlässigen. Doch so sehr ich über die Ängste, Verzweiflung und auch Wut hörte, so konnte ich sie nie im selben Ausmaß empfinden. Mit der Weste von EAPPI war ich immer als Außenstehende gekennzeichnet. Das Leben, das wir in Israel und Palästina kennenlernten, war schließlich nicht mein Leben. Ich wusste, dass ich jederzeit gehen konnte und nach drei Monaten im Programm sogar wieder nach Österreich zurück musste. Aber genau darin liegt eine weitere Stärke des Programms: als ökumenische Begleiterin bin ich letzten Endes nicht involviert. Ich fühlte keine Angst. Deshalb war es leichter für mich unparteiisch zu bleiben, mich für Frieden und Gerechtigkeit auf beiden Seiten einzusetzen und letzten Endes nicht die Fähigkeit zu verlieren, in meinem Gegenüber Menschlichkeit zu erkennen. Umso mehr beeindruckten mich israelische und palästinensische Menschen und Aktivist:innen, die im Konflikt aufgewachsen sind und trotzdem dazu fähig waren, ihr eigenes Leid und das Leid der anderen Seite anzuerkennen, die Fehler der anderen genauso wie Fehler auf der eigenen Seite aufzeigten und die durch diese Haltung statt Spaltung und Polarisierung wieder die Menschlichkeit in den Vordergrund rückten.
Dunkle Zeiten
Die derzeitige Situation lässt Zweifel aufkommen, ob die bisherige Friedensarbeit in Israel und Palästina einen Sinn hatte. Dass es zur Eskalation von Gewalt kommt, war für mich und viele andere, die sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt beschäftigen, keine Überraschung. Wer die Lage vor Ort näher kennt, spürt, dass die Situation nicht auf Dauer so aufrechterhalten werden konnte. Schließlich hat sich seit Monaten die vielfach zitierte Gewaltspirale ungebrochen weitergedreht. Es war das Ausmaß der Gewalt, das wir am 7. Oktober sahen und die seither die Region dominiert, das ich nicht erwartet hatte. Zum ersten Mal seit der Gründung von EAPPI im Jahre 2002 sind – mit Ausnahme der Coronazeit – keine EAs im Westjordanland und Ostjerusalem. Die Sicherheitslage erlaubt es momentan nicht. Für die Kontakte, die zum Teil jahrelang von EAs begleitet wurden, heißt das, dass sie ohne den Schutz der internationalen Präsenz von EAPPI sind. Auch Menschenrechtsverletzungen können derzeit nicht von EAs dokumentiert werden, wodurch wertvolle Informationen für die UN und weitere internationale Organisationen verloren gehen. Aus der Ferne bin ich noch mit ein paar der Menschen, die ich in meinem Einsatz kennenlernen durfte, in Kontakt. Eine von ihnen schrieb mir auf Deutsch: „Wir sind fassungslos über das, was auf beiden Seiten geschieht. Es gibt keine Hemmschwelle mehr. Töten ist normal geworden in Israel und Palästina. Die Menschen sind verroht. Wie soll es weiter gehen?? Wir leben in einem Teufelskreis von Vergeltung und Vergeltung der Vergeltung. Über ein halbes Jahrhundert Unterdrückung und über ein halbes Jahrhundert Besatzer zu sein hat den Menschen die Menschlichkeit genommen. Immer sind die Zivilisten auf beiden Seiten die Opfer“.
Hoffnungsschimmer
Dieselbe Person sagte mir bei unserem ersten Treffen: „Ihr in Deutschland und Österreich könnt sagen ‚die Hoffnung stirbt zuletzt‘, aber wir hier dürfen uns nicht erlauben das zu sagen. Die Hoffnung darf für uns nie sterben. Sie ist alles, was wir haben.“ Ihre Worte sitzen noch tief in mir, und obwohl die Situation so dunkel wie noch nie zuvor aussieht, halte ich mich an sie. Dabei bin ich nicht die Einzige. Es gibt nach wie vor israelische, palästinensische und internationale Stimmen, die sich gerade jetzt für das Ende der Gewalt aussprechen, damit Israelis und Palästinenser:innen beginnen können in Frieden zu leben. Doch Frieden kann nicht auf einem Boden entstehen, der gespalten ist. Dazu können auch wir in Österreich einen Beitrag leisten, indem wir polarisierende Schwarz-Weiß-Denkmuster brechen und uns stattdessen mit israelischen und palästinensischen Zivilist:innen solidarisieren, die Leid und Tod erfahren und lebensbedrohlicher Gefahr und Gewalt ausgesetzt sind, unabhängig auf welcher Seite einer Mauer sie leben. Versuche, das eine Leid gegen ein anderes Leid aufzurechnen, führen meiner Meinung nach nur zu noch mehr Schmerz, Hass und Verhärtung. Von vielen Kontakten vor Ort hörte ich seither den Ruf: „Wir brauchen euch mehr denn je!“ Uns, die als ökumenische Begleiter:innen die Menschen in ihren Heimatländern durch unsere Erfahrungen für die Situation von Israelis und Palästinenser:innen sensibilisieren können. Denn als Begleiter:innen schickte uns der Weltkirchenrat nach Israel und Palästina und als Botschafter:innen für Frieden und Gerechtigkeit kehrten wir wieder zurück.
Bitte beachten:
Ich bin als Ecumenical Accompanier von der Diakonie ACT Austria, dem Internationalen Versöhnungsbund und Pax Christi Österreich zum Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI) des Weltkirchenrates entsandt. Die hier geteilten Ansichten sind meine persönlichen und spiegeln nicht unbedingt jene meiner Sendeorganisation oder des Weltkirchenrates wider. Möchten Sie die hier enthaltenen Informationen weiter veröffentlichen (inklusive der Veröffentlichung auf einer Website) kontaktieren Sie bitte zuerst eappi@diakonie.at oder EAPPI Communication Officer communications@eappi.org zur Genehmigung. Danke