Protokoll einer Schulzerstörung

Verfasst von - 15. Mai 2023 - Neuigkeiten EAPPI

Mitte Februar 2023 besuchte ich mit zwei Teamkolleg:innen zum ersten Mal das nahe Bethlehem gelegene Dorf Jubbet adh Dhib und erfuhr über den Kampf der Dorfbewohner:innen grundlegende Infrastruktur wie Strom oder eine Volksschule zu erhalten. Das Dorf liegt am Fuße des Berges, auf dem sich die historische Ausgrabungsstätte von Herodium befindet. Für jede Bautätigkeit wird daher eine Zusatzgenehmigung benötigt. Für Palästinenser:innen ist es jedoch ohnehin bereits schwer bis unmöglich eine Genehmigung in Gebiet C zu bekommen, das unter israelischer Zivil- und Sicherheitskontrolle steht und über 60 % des Westjordanlandes ausmacht. Weniger als 1 % davon ist laut israelischen Plänen als Baugrund für Palästinenser:innen vorgesehen und nicht einmal 3 % der beantragten Baugenehmigungen wurden zwischen 2009 und 2016 bewilligt (OCHA 2017, S. 12).

Auf Initiative der Frauen von Jubbet adh Dhib wurde 2017 endlich eine Schule für die sechs- bis zehnjährigen Kinder des Dorfes gebaut – ebenfalls ohne Genehmigung. Zwei Tage vor Schulbeginn wurde sie vom israelischen Militär abgerissen, doch über Nacht bauten die Männer des Dorfes sie wieder auf. Die Schule wurde von EU-Geldern unterstützt und lag etwas abseits. Die direkte Verbindungsstraße wurde jedoch von Steinen blockiert, um israelischen Bulldozern den Zugang zu erschweren, denn die Gefahr eines neuen Abrisses war ständig präsent. Ein Monat nach unserem ersten Besuch wurde sie schließlich real, als unser Team von einer neuen Abrissverfügung für die Schule in Jubbet adh Dhib erfuhr. Dem israelischen Militär blieben dafür 60 Tage – bis Anfang Mai also. Wir entscheiden uns deshalb, die Schule mehrmals pro Woche zu besuchen.

Foto 1: Die Schule in Jubbet adh Dhib bei der morgendlichen Versammlung (Sabine von der Gruppe 88)

Es begann ein Wettlauf gegen die Zeit. Mitarbeiter einer lokalen NGO wechselten sich mit Männern des Dorfes ab, um die Nächte in der Schule zu verbringen. Sollte das Militär mit Bulldozern aufmarschieren, könnten sie den Abriss zwar nicht verhindern, aber zumindest ein paar Dinge aus der Schule retten. Drei Wochen nach Erhalt der Abrissverfügung, pflanzten bei unserer Ankunft ein paar Buben gerade Olivenbäume und Kakteen auf dem Schulhof. Nur für einen kurzen Moment irritierte mich der Anblick – wozu das Ganze, wenn die Schule doch jederzeit abgerissen werden könnte? Die Direktorin erzählte uns, dass die Kinder mittlerweile Bescheid wissen, sie den Schulalltag aber aufrechterhalten wollen. Auch Semesterferien werden keine gemacht, schließlich wollen sie jeden Tag nutzen, an dem es die Schule noch gibt. Manche Kinder kamen neugierig auf uns zu, um ein paar Sätze Englisch mit uns zu üben. Alles wirkte so normal und gleichzeitig erschien es mir alles andere als alltäglich, dass sich Kinder freuen und Lehrkräfte erleichtert sind, wenn sie morgens ankommen und die Schule noch da ist. Die Gefahr des Abrisses hing wie ein Damoklesschwert über allen und mit jedem vergangenen Tag stieg auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Schule am nächsten Tag nicht mehr steht.

Doch Jubbet adh Dhib ist nur eine von über 50 Schulen im Westjordanland, denen der Abriss droht. Als die UN vor der humanitären Krise und des Verstoßes gegen das Recht auf Bildung aufgrund der Schulzerstörungen warnte, wurde sie von der israelischen Siedler:innenorganisation Regavim in einem Facebookpost dafür stark kritisiert. Laut Regavim wurde die Schule nicht aus Bildungszwecken gebaut, sondern aus strategischen Gründen, um Land zu annektieren. Die Organisation Regavim wurde 2006 u. a. vom derzeitigen israelischen Finanzminister Bezalel Smotrich gegründet und beschreibt sich selbst als NGO, die sich für den Schutz des israelischen Landes einsetzt und gegen – aus ihrer Sicht illegalen – palästinensischen Bauaktivitäten vorgeht. Es war Regavim, die sich für den Abriss der Schule in Jubbet adh Dhib einsetzte und mit einer Petition vor Gericht ging.

An unserem letzten Tag in Bethlehem fuhren wir noch einmal zur Schule, um uns zu verabschieden. Der Abriss hätte jederzeit passieren können. Mehr als 30 Tage waren seit dem Erhalt der Abrissverfügung vergangen und alle waren dankbar für jeden weiteren Tag, an dem der Unterricht normal stattfinden konnte. Wie jeden Morgen empfing uns die Direktorin mit einem breiten Lächeln, bedankte sich für unsere Unterstützung und umarmte uns dieses Mal zum Abschied. Wir wünschten ihr alles Gute, aber im Grunde war es nur eine Frage der Zeit, bis ihre Schule abgerissen wird.

Foto 2: Straßenblockade vor der Schule (Evelyn von der Gruppe 87  )

Am 7. Mai 2023 erhielt ich schließlich die Nachricht vom derzeitigen Team in Bethlehem, dass die Schule am Morgen vom israelischen Militär abgerissen wurde. Der Großteil des Inventars wurde unter dem Bauschutt begraben, die Überreste von LKWs weggebracht und der Container sowie der Spielplatz konfisziert. Wo einst eine Schule stand, blieb nur mehr eine ebene Fläche mit Schotter übrig. Stunden später verkündete Regavim ihren Erfolg auf Facebook. Indes haben 60 Kinder des Dorfes Jubbet adh Dhib ihre Schule verloren. Doch es blieb nicht dabei. Weitere Versuche, den Unterricht an Ort und Stelle weiterzuführen, wurden ebenfalls unterbunden. Dreimal war das israelische Militär nach dem Abriss wieder in Jubbet adh Dhib, um auch das vorrübergehende Zelt und das neue Fundament, das für den Wiederaufbau der Schule bereits fertiggestellt wurde, abzureißen.

Quelle:

OCHA (2017): Occupied Palestinian Territory. Humanitarian Facts and Figures. https://www.un.org/unispal/wp-content/uploads/2017/12/OCHAFACTSHEET-211217.pdf

Bitte beachten:

Ich bin als Ecumenical Accompanier von der Diakonie ACT Austria, dem Internationalen Versöhnungsbund und Pax Christi Österreich zum Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI) des Weltkirchenrates entsandt. Die hier geteilten Ansichten sind meine persönlichen und spiegeln nicht unbedingt jene meiner Sendeorganisation oder des Weltkirchenrates wider. Möchten Sie die hier enthaltenen Informationen weiter veröffentlichen (inklusive der Veröffentlichung auf einer Website) kontaktieren Sie bitte zuerst eappi@diakonie.at oder EAPPI Communication Officer communications@eappi.org zur Genehmigung. Danke