Eine Ökumenische Begleiterin berichtet von ihren persönlichen Erfahrungen in Jerusalem
Dieser Artikel erscheint in der Zeitschrift ‚Spinnrad‘ Nr. 3/22; https://www.versoehnungsbund.at/spinnrad/
Das Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) des Weltkirchenrates musste Anfang 2020 coronabedingt unterbrochen werden. Die anwesenden Begleiter:innen wurden evakuiert, 2020 und 2021 gab es keine internationale Präsenz in Palästina und erst Anfang 2022 konnte das Programm wieder starten. Als die Grenzen wieder geöffnet wurden und der Beschluss gefasst wurde, dass das Programm weitergeht, musste alles sehr schnell gehen, die erste kleine Gruppe kam und hatte die schwierige Aufgabe des Neustarts. Jetzt ist bereits die dritte Gruppe hier, der Tagesablauf hat sich eingespielt und es ist eine große Hilfe, vom Vorgängerteam das Know how zu übernehmen. Vorläufig sind wir in fünf Orten tätig, nämlich in Jerusalem, Bethlehem, Hebron, Jericho und South Hebron Hills. Ob die anderen Placements aus Vor-Corona-Zeiten wieder geöffnet werden können, hängt vor allem vom finanziellen Faktor ab.
Das Programm besteht seit 20 Jahren und betreut rund 300 größere und kleinere Gemeinschaften. Es gibt keine andere NGO in Palästina, die so viele Orte betreut. Vielen internationalen NGOs wurde von Israel die Tätigkeit verboten, das heißt, sie wurden des Landes verwiesen, und es ist fast ein Wunder, dass EAPPI in 20 Jahren nicht von diesem Schicksal betroffen wurde. Jack Munayer, der Büroleiter in Jerusalem, meint, dass es zum einen daran liegt, dass es sich um ein Programm des Weltkirchenrats (WCC) handelt, und zum anderen, dass unsere Aktivitäten eher beobachtend und dokumentierend und nicht direkt aktivistisch sind. Das ist für einige Teilnehmer:innen manchmal ein wenig unbefriedigend, aber diese vorsichtige Haltung hat es erlaubt, dass das Programm 20 Jahre aktiv sein konnte.
In den zwei Jahren der fehlenden internationalen Präsenz sind die Vorfälle stark angestiegen. So gab es z.B. bis 2016 pro Jahr durchschnittlich 600 Abrisse von baulichen Strukturen, ab 2020 stiegen diese auf über 800 an. Dasselbe trifft für Angriffe von Siedler:innen zu. Diese statistischen Zahlen zeigen, dass unsere Präsenz vor Ort wichtig ist. Aber auch die Anwesenheit von Tourist:innen hat laut Büroleiter Jack eine deeskalierende Wirkung. Die schweren Übergriffe in Sheikh Jarrah, die Schließung des Damaskus-Tores und der letzte Gaza-Krieg im Mai 2021 wären eventuell nicht passiert, wenn Menschen aus aller Welt hier gewesen wären.
Die Menschen, die wir besuchen, sagen immer wieder, dass sie sich sicherer fühlen, wenn wir hier sind. Eine weitere wichtige Aufgabe eines/einer ökumenischen Begleiter:in besteht darin, zu Hause davon zu berichten, was man mit eigenen Augen gesehen hat. Wir sind ein wenig wie Zeug:innen der Verletzung von Menschenrechten von Palästinenser:innen in unseren Herkunftsländern.
Ich bin jetzt bereits seit 20. August in Palästina, zusammen mit weiteren 23 Personen aus Brasilien, Ecuador, England, Frankreich, Schweden, Norwegen, Finnland und Deutschland. Eine Person aus Südafrika durfte nicht einreisen, eine Person aus Ecuador erhielt sein Visum vorläufig nur für sechs Wochen. Israels Haltung ist sogar in unserer kleinen Gruppe deutlich sichtbar: Südafrikaner:innen und Südamerikaner:innen sind nicht willkommen, die könnten ja als Migrant:innen hierbleiben, aber weiße Europäer:innen sind willkommene Gäste.
Ich bin in Jerusalem stationiert, obwohl ich lieber in den Dörfern mit den Hirten unterwegs bin, muss ich natürlich dort arbeiten, wo man mich braucht. In Jerusalem richten wir unser Augenmerk vor allem auf die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die Checkpoints und die rasant ansteigende Siedler:innenkolonisierung. Weiters nehmen wir an friedlichen Demonstrationen teil, beobachten die Zugänge zu den Gebetsstätten und sind schützende Begleitung für die in der Peripherie von Jerusalem lebenden Beduinen-Familien.
Diese Beduin:innen wurden seit 1948 bereits zwei oder drei Mal vertrieben und stehen wieder unter der Bedrohung der gewaltsamen Vertreibung, denn Israel möchte ihre Weidegebiete für Siedlungserweiterungen, neue Siedlungen und Straßenbau konfiszieren. Jedes Mal, wenn sie einen kleinen Zubau für die Tiere errichten oder gar wagen, eine ärmliche Unterkunft für eine neugegründete Familie zu bauen, werden diese zerstört. Aber sowohl in Jabal al Baba als auch in Khan al Ahmar – das sind die Dörfer, die wir am häufigsten besuchen – sagen die Menschen: “Selbst wenn sie 50 mal unsere Gebäude zerstören, wir bauen sie wieder auf.“
Silwan, ein dicht besiedeltes Viertel südlich der Al Aqsa Moschee, ist extrem bedroht, steinreiche Siedlerorganisationen setzen alles daran, die Häuser der Palästinenser:innen zu übernehmen. Für 87 Häuser gibt es einen Abriss-Befehl, die meisten Menschen haben ihre Fälle bis zum Obersten Gerichtshof gebracht, die Urteile sind noch ausständig, aber leider ist es in den meisten Fällen so, dass die israelischen Richter:innen zugunsten der Siedler:innen entscheiden. Auch wenn die PalästinenserInnen unzählige gültige Dokumente über ihr Eigentum vorweisen, gibt es immer ein ´Rechtsargument´, damit sie den Kürzeren ziehen. Die ISF (Israeli Security Forces) machen immer wieder nächtliche Razzien in Silwan und nehmen Jugendliche fest. Es gab ein Protestcamp von solidarischen Menschen, dieses wurde aber geräumt. Die Menschen von Silwan haben in einem alten Haus ein Kinderbegegnungszentrum eingerichtet. Am Nachmittag können die Kinder dort spielen, lernen, Theater machen und tanzen. Dadurch kommen die Kinder von der Straße weg, sie sind weniger gefährdet und haben einige Stunden die Möglichkeit, nur Kind zu sein. Wir schließen unsere Rundgänge in Silwan mit dem Besuch dieses Zentrums ab.
Ein ziemlich neuer ´hot spot´ ist das Dorf An Nabi Samwil (=Samuel). Das Grab des Propheten Samuel soll sich angeblich hier befinden. Ein schönes altes Kloster steht hier, jetzt ist es zur Hälfte Moschee und zur anderen Hälfte Synagoge. Das Dorf gehört zu Jerusalem, ist nur 15 Minuten von der Altstadt entfernt, aber die Menschen dürfen nicht nach Jerusalem fahren und sind auch von der Grundversorgung durch die Stadt (Wasser, Abwasser, Elektrizität, Zugang zu Krankenhäusern etc.) ausgeschlossen. Ostjerusalem wurde 1967 besetzt und 1980 völkerrechtswidrig annektiert. Aber die israelischen Behörden haben sich nicht an die Grüne Linie gehalten, sondern die Stadtgrenze von Jerusalem so bestimmt, dass Viertel oder Dörfer, die hauptsächlich von Palästinenser:innen bewohnt sind, hinter der Stadtgrenze liegen, also in der Westbank. Die Menschen von An Nabi Samwil dürfen weder bauen noch Häuser reparieren, die Siedler:innen behaupten, dass das Land ihnen gehört, die Menschen von An Nabi Samwil sollen endlich verschwinden und daher begannen vor einigen Monaten Proteste dagegen.
Am ersten Freitag, an dem wir An Nabi Samwil besuchten, waren ca. 200 Siedler:innen anwesend, zusammen mit dem rechtsextremen Politiker Itamar Ben-Gvir. Sie kamen mit schwerer Polizei- und Armee-Begleitung, wir wurden zusammen mit den PalästinenserInnen abgedrängt und die Soldat:innen fotografierten unsere Pässe. Die Siedler:innen schrien wilde Parolen, das Hebräische verstehe ich ja nicht, aber der Tonfall allein war auch aussagekräftig. Die palästinensischen Männer marschierten nach dem Freitagsgebet schweigend geschlossen aus der Moschee und an den Siedler:innen vorbei, die palästinensischen Frauen hielten große Poster mit ihren Forderungen in die Höhe. Unsere wöchentliche Präsenz in diesem Ort ist wichtig und die Leute sind sehr froh über unser Hiersein. Nach der Demo laden sie uns zu Kaffee, Tee und Süßigkeiten ein und erzählen über ihr Leben.
Zum Abschluss möchte ich alle Leser:innen bitten, im Rahmen Eurer Möglichkeiten zu spenden. Denn das Weiterbestehen des Programmes hängt von internationaler finanzieller Hilfe ab. Ich würde viel lieber schreiben, dass das Programm eingestellt wird, weil es nicht mehr nötig ist. Leider ist dem nicht so, leider wird die brutale Besatzung fortgesetzt mit den damit einhergehenden Menschen- und Völkerrechtsverletzungen. Es bleibt zu hoffen, dass die internationale Völkergemeinschaft endlich ein ´Ya Basta´ = ´Es reicht´ ausspricht. Die einfachen Menschen haben das zum Großteil schon getan, jetzt sind die Politiker:innen dran…
Die „Ökomenische Begleiterin“ ist von August bis November bereits zum dritten Mal mit EAPPI im Einsatz, das in Österreich von der Diakonie ACT Austria, dem Internationalen Versöhnungsbund und Pax Christi koordiniert wird. (Steuerlich absetzbare) Spenden an EAPPI können auf das Konto der Diakonie Katastrophenhilfe: IBAN: AT85 2011 1287 1196 6333, BIC: GIBATWWXXX; Verwendungszweck: EAPPI, überwiesen werden.
Foto (c) EAPPI_EA _ Jerusalem – Silwan – Kunstprojekt ‚I Witness Silwan‘