Wenn die Heimat ein Truppenübungsplatz wird

Verfasst von - 13. August 2019 - Aktuell vor Ort, Archiv

Besuch in Jinba in der Masafer Yatta Firing Zone 918

Abeds 1990er Jahre Subaru bewegt sich erstaunlich schnell auf der  Hauptstraße 317 und überwindet bravourös die Kuppe zur engen Asphaltstraße ins Dorf AtTawani. Aber gleich hinter AtTawani beginnt die steile Schotterstraße, steinig, ausgeschwemmt und voller Schlaglöcher. Nach dem Dorf Umm Fagarah befindet sich unser Ziel, das Dorf Jinba ziemlich genau im Süden. Die Straße schlängelt sich jedoch die Hügel entlang und so kommen wir zuerst östlich am Dorf Kallet Athaba vorbei, es liegt traumhaft schön am Abhang mit Blick nach Süden in ein tiefes Tal und weitere sich in alle Richtungen verzweigende Täler. Auf einer Seite des Dorfes gibt es reihenweise angeordnete Olivenbäume, welche die ockerfarbige Landschaft unterbrechen. Dann sehen wir das Dorf Khirbet Al Fakheit. Auch dieses Dorf schmiegt sich an einen Hügelabhang, unten im Tal sehen wir die grünen Gemüsefelder der Al Fakheit-BewohnerInnen. Wir rumpeln weiter bergauf und bergab und nach ca. einer Stunde sehen wir das idyllische Dorf Jinba vor uns liegen. Es sind noch Wohnhöhlen erhalten, aber es gibt auch die gut bekannten kastenartigen Betonziegelbauten, die als Besucherraum dienen, und daneben die mit Wellblech gedeckten und verschlagenen Schafställe, alles Bauten, die aufgrund ihrer Lage in der „firing zone“ mit Abbruchbefehlen belegt sind.

Was ist eine Firing Zone? Das sind große Gebiete, welche die israelischen Streitkräfte als geschlossenes Militärgelände für Ausbildungszwecke erklären, was zur Folge hat, dass die Menschen aus ´Sicherheitsgründen´ vertrieben werden.

Masafar Yatta Firing Zone gelb schraffiert (von B’tselem Website)

Was ist die Masafer Yatta Firing Zone 918? Anfang der 1980er Jahre wurden etwa 30.000 Dunam (3000 Hektar) in den South Hebron Hills (inklusive 12 Dörfer) von den israelischen Streitkräften (IDF) als geschlossenes Militärgelände für Ausbildungszwecke ausgewiesen (Firing Zone 918). Im Jahr 1999 wurden die mehr als 700 BewohnerInnen dieser Dörfer, die die Höhlen und Häuser teilweise bereits vor der israelischen Besetzung 1967 bewohnten, vertrieben und Häuser und anderes Eigentum wurden zerstört. Mit Hilfe eines israelischen Menschenrechtsverbandes wandten sich die Menschen an den Obersten Gerichtshof, welcher zuerst im Jahr 2000 durch eine einstweilige Verfügung den DorfbewohnerInnen die Rückkehr erlaubte. 2002 wurde von einem ehemaligen hohen DCO-Funktionär1 ein Schiedsgerichtsverfahren eingereicht. Bei diesem wurde den DorfbewohnerInnen der Transfer in ein anderes, kleineres Dorf in der Nähe von Yatta angeboten, die DorfbewohnerInnen lehnten ab. Erst 2005 wurde dieses Verfahren ohne Ergebnis beendet. Von Seiten Israels erfolgten dann 27 Anträge an das Oberste Gericht, die Übermittlung der Entscheidungen zu verschieben, und die einstweilige Verfügung blieb in Kraft. Die DorfbewohnerInnen blieben und bauten ihre Felder weiterhin an, lebten aber ständig mit der Bedrohung der Hauszerstörungen, welche immer wieder durch rechtswidrige Auslegung der Gerichtsverfügung durch das DCO durchgeführt wurden. So wurden zum Beispiel mit europäischen Hilfsgeldern errichtete Regenwasserzisternen zerstört. Erst 2012, also 7 Jahre nach der einstweiligen Verfügung, nahm der Oberste Gerichtshof den Fall wieder auf. Ebenso wurden erst im April 2012 die ersten Manöver in dieser Zone durchgeführt. Laut Aussagen von Ex-SoldatInnen der NGO Breaking the Silence wurden in dieser Zone nie Manöver mit Schusswaffen durchgeführt.

Im Juli 2012 übermittelte Israel seine Position an den Obersten Gerichtshof und forderte die Zerstörung von acht Dörfern, vier Dörfer wurden als außerhalb des geschlossenen Militärgeländes gelegen erklärt und dürften somit bestehen bleiben. Die BewohnerInnen der anderen acht Dörfer dürften ihre Felder an jüdischen Feiertagen und zwei Monate im Jahr bearbeiten. Die Menschen erhoben Einspruch, der Rechtsstreit ging weiter. 2013 entschieden drei Richter für einen Mediationsprozess zwischen den betroffenen DorfbewohnerInnen und dem Staat Israel. Am 1. Februar 2016 scheiterte dieser Schlichtungsprozess und der Oberste Gerichtshof wurde davon in Kenntnis gesetzt. Am selben Tag machten DCO-Leute Fotos in den Dörfern und am nächsten Morgen zerstörten sie 22 Häuser in Jinba und Halawah und konfiszierten gespendete Sonnen-Paneele. Durch eine dringliche Eingabe der ´Rabbiner für Menschenrechte´ (Rabbis for Human Rights) an den Obersten Gerichtshof mussten die israelischen Streitkräfte zu Mittag die Zerstörungen einstellen. Das Gerichtsverfahren ist noch immer im Laufen, eine endgültige Entscheidung bis dato noch nicht getroffen und die fallweisen Zerstörungen unter den diversesten Argumenten gehen weiter. 2

Gleich am Dorfeingang treffen wir Mussa, der gerade mit seinem alten Ford-Traktor vom Feld zurückkommt. Sein zerfurchtes Gesicht und sein hagerer Körper lassen vermuten, dass er wohl seit seiner frühen Kindheit ein Fellach (Bauer) und Hirte war.

Mussa erzählt (Foto: EAPPI/ privat)

Mussa erzählt, dass sein Großvater dieses Land zur Zeit der türkischen Besetzung kaufte und er hat darüber Dokumente, die 104 Jahre alt sind. Die Großfamilie besitzt 1200 Dunam (ca. 120 Hektar) Land. Soeben hat er 500 Olivenbäume gepflanzt. Früher bearbeitete er auch Land in Bir Al Idd. Bir Al Idd liegt oben am Hügel, früher hatten viele Menschen sowohl Gründe in Bir al Idd als auch in Jinba und je nach Jahreszeit (wegen der Ernte bzw. wegen des Weidens) lebten sie entweder ´oben´ oder ´unten´. Als dort die Situation durch die SiedlerInnen immer gefährlicher wurde, beschloss er, dass die Familie den ständigen Wohnsitz in Jinba nehmen solle.

Er zeigt uns zwei Olivenbäume in Richtung Süden. Dort hätten die Israelis ihre imaginäre grüne Linie gezogen. Dahinter lag einst das Dorf Kheretyn, welches so groß wie Jatta war und fest gebaute Häuser hatte. Das ist auch das Dorf von Umm Jihad, der Mutter unseres Fahrers, und auch sie erzählte uns, dass 1958 das Dorf zerstört, Menschen ermordet und sie dann alle vertrieben wurden. Fotos aus dem Jahr 1936 zeigen, dass Kheretyn ein belebtes Dorf war, mit vielen Bäumen, grünen Gemüsegärten, ja selbst Geschäfte gab es im Dorf.

Mussa spricht von der türkischen Zeit und meint: „Egal wer uns regiert, niemand tut etwas für uns, aber das ist nicht so wichtig, was für uns allein wichtig ist, das ist unser Land.“

Weiter erzählt er, dass vor ca. acht Monaten israelische Forscher kamen, die nach archäologischen Funden Ausschau hielten. Mussa meint, das könnte die Antwort auf ihren Kampf am Obersten Gerichtshof sein. Denn oft führen gerichtliche Eingaben der PalästinenserInnen zu Gegenmaßnahmen, das heißt, es wird nach neuen Gründen gesucht, um die Vertreibungen durchzuführen. Archäologische Funde eignen sich dafür bestens, so wurden damals die Menschen aus dem Dorf Susiya vertrieben.

Eines der größten Probleme seien im Moment nicht die Abrissbefehle, die ja durch den ausstehenden Gerichtsbeschluss eingefroren sind, sondern das Wasser. Sie haben eine Wasserleitung aus AtTawani und sie sammeln Regenwasser in Zisternen, aber das reicht nicht, daher müssen sie Wasser mit Tanks holen oder bringen lassen. Ein Tank (3 m³) kostet 20 NIS (ca. 5 Euro), aber hinzu kommt der Diesel für den Traktor auf dieser Rumpelpiste. Die Fahrt hin und retour dauert 6 Stunden, wenn sie einen Tank kommen lassen, betragen die Kosten 300 NIS (ca. 75 Euro). Die Soldaten, die immer wieder ins Dorf kommen, konfiszieren oft Autos der Menschen, die keine ordnungsgemäßen Papiere vorweisen können. Die meisten Autos hier sind aus zweiter oder dritter Hand, dienen auch oft als Fahrzeug, mit dem die Feldarbeit verrichtet wird, nicht zu Unrecht nennen die Menschen diese Autos ´Traktor´ und wahrscheinlich sind die Papiere manchmal nicht ganz up to date. 

Der Cousin Aziz kommt mit einigen größeren Buben. Dann geht es um Politik, wir verstehen leider nichts, aber Mussa erzählt auf unsere Frage, wie er die Zukunft sieht, eine lange Fabel, die mit Hilfe der Übersetzung unseres Fahrers so lautet: Es war einmal ein Vater, der hatte zwei Söhne. Ein Sohn ging zur Arbeit, der kleine Sohn ging in die Schule. Der größere Sohn kaufte Zwiebel, Tomaten und Brot, und wenn er am Abend nach Hause kam, konnte die Familie davon leben. Eines Tages traf er auf einen bösen Arbeitgeber, der ihm nur ganz wenig für sein Tagwerk zahlte, und er konnte nur ganz wenig Lebensmittel kaufen. Auf seinem Heimweg wurde er von seinem kleinen Bruder erwartet. Als dieser das kleine Bündel sah, fragte er, was los sei. Der große Bruder erklärte, dass der Arbeitgeber nicht den vollen Lohn zahlte. Der kleine Bruder sagte daraufhin, dass er am nächsten Tag auch zum Arbeiten gehen würde, und falls sie wieder einen bösen Arbeitgeber treffen, dann würden die zwei Löhne ausreichen, um genügend Essen für alle zu kaufen. Fänden sie dagegen einen guten Arbeitgeber, dann könnten sie das übrige Geld anderweitig verwenden. Zuhause angekommen, erklärte er seinen Plan dem Vater. Der fragte ihn, warum er denn nicht in die Schule gehen wolle. Der Sohn sagte, die Schule nervt ihn, denn der Lehrer spricht immer über das Volk, die Regierung und die Zukunft und er versteht nichts. Um seinen Sohn diese Konzepte zu erklären und zu überzeugen, dass Arbeiten statt Schule gehen keine gute Idee sei, versuchte der Papa ihm die Politik zu erklären, indem er die Familie als Beispiel nahm.. Er sagte: ´Sieh her, mein Sohn. Ich bin die Regierung, deine Mutter ist das Volk, dein Bruder ist der Arbeiter und du bist die Zukunft.` Die beiden Söhne gingen zu Bett. Mitten in der Nacht musste der kleine Sohn aufstehen um seine Not zu verrichten. Der große Sohn sah das, klopfte an die Zimmertür des Vaters und sagte: ´Regierung, bitte sage dem Volk, dass die Zukunft beschissen ist´. Tan tan….

Das Gespräch mit Tee und Kaffee geht weiter und Mussa schwärmt von der Alhambra in Granada, die er aus dem Geschichte-Unterricht kennt.

Anschließend erzählt er, dass ihnen vor Jahren das DCO 75.000 Schekel anbot, falls sie für sechs Monate während der Manöver aus der Firing Zone wegziehen würden. Er habe daraufhin eine Handvoll Erde genommen, zeigte sie dem Mann und sagte: „Wir verlassen unser Land nicht, es gibt keinen Geldbetrag, der uns dazu bewegen würde.“ Bei der Verabschiedung sagt Mussa: „Es ist wichtig, dass ihr draußen erzählt, wie es uns hier geht.“

Nach diesem langen Gespräch brechen wir zur Rückkehr auf. Jetzt sehen wir Hügel und Täler von der anderen Seite, das Spätnachmittagslicht taucht die Landschaft in warme Farben, die Schatten in den Tälern werden immer länger und Menschen und Tiere beginnen von der lange erwarteten Abkühlung zu träumen.

Quellen:
1. DCO= District Coordination Office, das ist die Israelische Zivilverwaltung in der Westbank, die 1981 geschaffen wurde, um die seit 1967 besetzte Westbank zu verwalten. Obwohl sie die Bezeichnung ´zivil´ führt, untersteht sie dem israelischen Militär und Geheimdienst – https://en.wikipedia.org/wiki/Israeli_Civil_Administration
2. https://www.btselem.org/south_hebron_hills/masafer_yatta