Endlich ist es so weit. Der erste Teil unseres Einführungskurses in Jerusalem ist abgeschlossen. Es ist Sonntagnachmittag, der 4.9., 16.00 Uhr. Von der Via Dolorosa gehen wir durch die Altstadt zum Damaskus Tor und dann ist es nicht mehr weit zur Busstation in Ostjerusalem, wo wir den Bus nach Ramallah nehmen. Über die Nablus Road geht es Richtung Qalandia checkpoint. Gewöhnlich werden ‚Ausreisende‘ nicht angehalten, auch heute kann der Busfahrer ohne Stopp weiterfahren und er bringt uns zum Busbahnhof ins lebhafte, ein südliches Flair ausströmende Ramallah. Dort findet sich gleich ein hilfreicher Palästinenser, er bringt uns zum ‚service‘ (= gelbe Kleinbusse, die einen Großteil des öffentlichen Transportes in Palästina abdecken), der nach Nablus fährt. Gleich hinter der Großstadt Ramallah sind wir endlich im ‚echten‘ Palästina und zum ersten Mal fühle ich‚ jetzt bin ich endlich angekommen‘.
Die Landschaft ist hügelig und steinig, jetzt im Sommer ist alles braun und ockerfarben. An den Hängen der Hügel sehen wir unzählige Olivenbäume, ab einer gewissen Höhe wachsen dann nur niedrige Gräser, die aber die Nahrung der Schafe und Ziegen sind. Wir fahren auf der Straße Nummer 60, einer wichtigen Nord-Sued-Verbindungstrasse, die sich serpentinenartig von Jerusalem bis nach Nablus in den Norden schlängelt. An beiden Seiten der Straße sehen wir immer wieder Dörfer. Die palästinensischen Dörfer sind alle sehr harmonisch an die Landschaft angepasst. Die Bauten werden mit großen sandfarbenen Ziegeln errichtet, es gibt selten andere Farben an den Häusern, die diese Harmonie stören würden. Und dann sehen wir die ersten israelischen Siedlungen, die werden immer auf den Hügeln errichtet. Ob es sich um eine Siedlung oder um ein Dorf handelt sieht man auch an der Bauweise, die Siedler haben meist monotone Serienhäuser, und die Wassertanks auf den Dächern der Siedler sind weiß, die Dorfbewohner dagegen haben schwarze Wassertanks.
Nach einer Reise von ca. 45 Minuten kommen wir zur Zaatara-Kreuzung. Dies ist ein wichtiger Verkehrsknoten, hier kreuzt die Ost-Westverbindung von Tel Aviv ins Jordantal, von hier geht es auch zur Tapuah Siedlung und die Israelis betreiben hier einen ‚flying checkpoint‘ (= ein checkpoint, der nicht regelmäßig funktioniert). Wir müssen an einer Nebenstraße aussteigen, wo unser Fahrer Ghassan auf uns wartet. Ghassan erzählt uns, dass die Siedler behaupteten, palästinensische Jugendliche hätten Steine geworfen. Deshalb ist diese Kreuzung jetzt mit 15 bis 20 Soldaten besetzt, alle tragen schwere Maschinengewehre und halten die Autos nach ihrem Gutdünken an und erlauben es den Palästinensern nicht, die Kreuzung zu Fuß zu überqueren. Palästinenser müssen einen weiten Umweg machen, wenn sie einen Bus auf der anderen Seite nehmen müssen.
Dann sehen wir die ersten blockierten Straßen. Das ist eine Form der israelischen Regierung des ‚collective punishment‘ (= kollektive Strafe). Sie ‚bestrafen‘ ein ganzes Dorf dadurch, dass sie ihnen ihre Straßen mit Betonblocks versperren, weil ein israelischer Siedler behauptete, irgendjemand aus dem Dorf habe Steine geworfen, Beweise muss der Siedler oder die Siedlerin nicht erbringen. Die Blockaden sind eine Schikane, die das tägliche Leben der Palästinenser noch mehr erschwert: Wenn sie mit Auto unterwegs sind, müssen zeitraubende Umwege fahren, wer mit dem Bus fährt, muss an der Blockade aussteigen, über Schutt, Steine und Betonblöcke klettern und dann hoffen, dass auf der anderen Seite ein anderer Bus kommt. Die Menschen kommen dadurch zu spät zur Arbeit oder in die Schule und auch die Transportkosten, die alles andere als niedrig sind, werden dadurch noch höher.
Nach diesem ersten Kennenlernen der palästinensischen Realität fahren wir dann auf der 505er Straße Richtung Osten nach Aqraba, einem Dorf mit 17.000 Einwohnern. Gleich hinter Aqraba fahren wir den Hügel hinauf und wir haben einen wunderbaren Blick auf das Jordantal, am Horizont sieht man bereits die Berge von Jordanien. Etwas weiter nördlich sehen wir unser Dorf Yanoun. Ober-Yanoun schmiegt sich an den braunen Hügel, die sandfarbenen Häuser bilden eine perfekte Einheit damit. Zuerst kommen wir durch Unter-Yanoun, das etwas weiter unten im Tal liegt und aus drei Häusern besteht, dann geht es zum mittleren Yanoun, auch hier sind drei Häuser und über den letzten Steilhang erreichen wir dann Ober-Yanoun. In Ober-Yanoun gibt es ungefähr 10 Häuser, aber es leben nur mehr 5 Familien hier. Voller Spannung betreten wir unser Haus. Es ist ein Haus, das vor 100 Jahren nach einem großen Erdbeben erbaut wurde. Der untere Teil ist ein Gewölbebau und man hat den Eindruck, dass dieser Bau alle Erdbeben widerstehen wird. Es ist ein großer Raum mit 4 Betten, einigen Stühlen und Schränken und einem kleinen Badezimmer. Das wird jetzt für 3 Monate unsere Schlafstatt sein und ich fühle mich auf Anhieb wohl. Über eine Außentreppe geht es hinauf zur großen Terrasse mit dem Eingang in die Küche, Wohnzimmer, einem kleineren Schlafzimmer für die Männer und auch hier gibt es ein Badezimmer. Wir vom Team, eine Irländerin, eine junge Brasilianerin, ein junger Norweger, ein junger Schwede und ich beginnen somit unser dreimonatiges Zusammenleben, indem wir uns gleich ans Kochen machen, um über die ersten Eindrücke hinwegzukommen: blockierte Straßen, blutjunge Soldaten mit dem Maschinengewehr immer schussbereit, checkpoints, die Unmöglichkeit eine Straße zu überqueren, das grundlose Anhalten von Autos….jetzt bin ich also wirklich hier
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kommt hinter dem östlichen Hügel ein fast kugelrunder Mond zum Vorschein, die Sterne strahlen so hell, wie bei uns auf dem Dorf und man möchte meinen, dass wir hier im Paradies sind. Aber dann fällt unser Blick auf die anderen Hügel, wir sehen die illegalen Outposts und Siedlungen, grelle Scheinwerfer beleuchten die Nacht und laute Musik dringt bis zu uns herunter und dann erwachen wir aus dem Traum und kehren zurück, hierher, in die palästinensische Realität.