Erzähl! Wie war es? Was hast du Neues aus Hebron zu berichten?
Nach drei Monaten in Al Khalil (der arabische Name für Hebron) bin ich wieder nach Hause zurückgekehrt. Seit meiner Ankunft aus Palästina haben mich viele Verwandte und Freund_innen neugierig angesehen und erwartungsvoll aufgefordert, über meine Erlebnisse vor Ort zu berichten. Mein Schweigen überraschte mich selbst. Nie erschienen mir Ort oder Zeitpunkt als angebracht, um all die Erfahrungen wiederzugeben, die einen tiefen Einschnitt in meinem Leben verursacht haben. Aber als noch weitaus schwieriger entpuppte es sich, eine Auswahl zu treffen aus all dem Erlebten und Gehörten. Dazu zählt leider auch eine lange Liste diverser Menschenrechtsverletzungen, die wohl alle meine Zuhörer_innen schockieren würden.
Da wäre zum Beispiel die Geschichte meines jungen Freundes Ameer Shaheen. Er wurde vom israelischen Militär des Steinewerfens beschuldigt, woraufhin er Anfang Oktober 2015 im israelischem Gefängnis Ofer inhaftiert wurde. Während seiner Vernehmung wurde er so lange geschlagen, bis seine beiden Beine und ein Arm gebrochen, zudem ein Schneidezahn ausgeschlagen und sein Kiefer ausgerenkt waren. Ich habe ihn kurz nach seiner Entlassung im Februar kennengelernt. Seine Mutter berichtete mir nicht nur von seiner Schlaflosigkeit, sondern auch von ihrer Angst, er könne sich selbst etwas antun. Aus diesem Grund wird Ameer im Alltag von seinem kleinen Bruder begleitet, um das Schlimmste zu verhindern. Ameer ist gerade einmal sechzehn Jahre alt.
Doch ich könnte auch die Geschichte von Kaldoon Daajneh erzählen. Im Oktober 2015 verließ er das Haus, um Milch zu kaufen. Auf dem Rückweg überquerte er den Platz Bab Al-Baladiya, wo gerade „Clashes“, also Zusammenstöße zwischen dem israelischen Militär und palästinensischen Zivilist_innen ausbrachen. Ein Soldat feuerte ein Teilmantelgeschoß ab, das Kaldoons rechten Oberschenkelknochen zersplitterte. Als ich Kaldoon im Februar kennenlernte, trug er Metallstifte, die die neuen Platten seines Beines stützen, das er nicht mehr wird abbiegen können. Kaldoon ist vierzehn Jahre alt.
Vielleicht könnte ich auch über die Familie Fakhore (Name geändert) berichten. Am Sonntag, den 7. Februar, um zwei Uhr morgens, wurde ihr Haus von 12 israelischen Militärjeeps eingekreist. Nachdem die Soldaten den 13-jährigen Sohn eine Stunde lang im Badezimmer auf Hebräisch verhört hatten, wurden drei weitere Söhne, 15, 17 und 24 Jahre alt, festgenommen. Den genauen Grund für ihre Inhaftierung konnte uns der Vater drei Tage später nicht genauer erläutern, schlicht und einfach, weil er ihn selbst nicht kannte. Ich verließ das Land, ohne erfahren zu haben, wie das Gericht entschieden hatte.
Sind diese Berichte wirklich Neuigkeiten? Lediglich ihr Datum macht sie aktuell. Doch die beschriebenen Geschehnisse sind Teil einer langjährigen Realität im Westjordanland, der zu viele Kinder und Jugendliche zum Opfer fallen. Seit 2000 sind über 8.000 Minderjährige inhaftiert worden. Laut der israelischen Menschenrechts-NGO B´Tselem waren es bis Ende Jänner dieses Jahres 406 Inhaftierte, davon 112 jünger als 16 Jahre.
Seit 1967 unterliegen Minderjährige in den besetzten palästinensischen Gebieten israelischem Militärrecht. Dies hat zur Folge, dass palästinensische Minderjährige automatisch durch Militärgerichte strafverfolgt werden. Die physische Misshandlung, die Ameer durchleben musste, ist ein Beispiel unter unsagbar vielen. Schon während meines Aufenthaltes wurde der Gefängnisname Ofer zum Inbegriff für Folterfälle unter Minderjährigen. Auch die drei Söhne der Familie Fakhore wurden bis zur Entscheidung des Gerichtes nach Ofer gebracht. Nach all den Berichten, die ich bereits kannte, quält mich dieses Wissen.
In den letzten Wochen vor meiner Abreise besuchte ich Ameer und seine Familie häufig. Ich wurde als Freundin empfangen. Es bereitete mir Freude zu sehen, dass Ameer sich mir gegenüber Schritt für Schritt öffnete. Jedes Lächeln, das ich ihm entlockte, ist ein persönlicher Triumph. Ameer ist mit ein Grund, warum mir das Berichten so schwer fällt. Ich fühle mich isoliert im Wissen, dass keine/r es auf dieselbe Weise nachempfinden können wird. „You must come and see, then you believe“, habe ich häufig vor Ort gehört. Dem stimme ich zu. Ich kam und war Zeugin, jetzt ist es an der Zeit mein Schweigen zu brechen.
Titelbild: Checkpoint, Irene B.