Andreas ist seit Anfang April 2024 als ‚Ecumenical Accompanier‘ im Rahmen des Ökumenischen Begleitprogramms des Weltkirchenrates in Palästina und Israel (EAPPI) in Bethlehem in einem dreimonatigen Einsatz.
12.04.2024
An unserem ersten Tag „out in the field“ fahren wir mit unserem Fahrer zum „Tent of Nations“, wo wir Amal und Daher (Schwester und Bruder) von Daoud treffen. Seit gut hundert Jahren besitzt die Familie auf einem Hügel südlich von Bethlehem ein großes landwirtschaftliches Grundstück. Der Großvater hatte es erworben und auch immer die nötigen Steuern an die osmanische Verwaltung gezahlt. Dies ist für die seit dreißig Jahren laufenden Gerichtsverfahren vor israelischen Gerichten sehr wichtig, weil es wesentliche Belege für das rechtmäßige Eigentum an dem Grundstück sind. Es gibt mehrere Wohnhöhlen, in denen Daoud und seine Geschwister aufgewachsen sind. Der Hügel ist auf allen Seiten von jüdischen Siedlungen umgeben, die ein Interesse daran haben, sich auch dieses Grundstück einzuverleiben.
Nach meinem Besuch im Jänner 2024 bin ich etwas aufgeregt zu sehen, wie die Situation aktuell ist. Wir müssen eine lange Strecke fahren über das Dorf Nahalin. Die früheren Erdhügel nahe der Straße 60 wurden entfernt. Dafür sind größere näher am Weinberg aufgeschüttet. Die alten wurden entfernt, um eine Erdstraße über das Nachbargrundstück direkt an den Zaun des Grundstücks der Familie heran zu führen. Es besteht die Gefahr, dass der Zaun durchbrochen werden kann und die Straße auf das Grundstück selbst weitergeführt wird. Amal erzählt, dass regelmäßig Siedler:innen bzw. Militär auftauchen und die Familie belästigen und bedrohen. So ist es aktuell zu gefährlich, auf den Teil des Grundstücks außerhalb des Zaunes zu gehen.
Wir arbeiten ein wenig mit, um das Beikraut um die Rebstöcke zu entfernen und die Erde zu lockern. Dann erzählt uns Amal von ihrer Arbeit, die sie früher mit den Frauen des Dorfes Nahalin gemacht hat. Nach anfänglicher Abwehr der Männer, begrüßten sie später, dass die Frauen sich in dem Gemeinschaftszentrum trafen. Wegen neuer Anfeindungen aus dem Dorf kann dieses Projekt aktuell leider nicht fortgesetzt werden.
19.04.2024
Beim nächsten Besuch begleiten uns zwei weitere internationale Begleiter:innen, die auf Grund ihres begrenzten Visums bald wieder ausreisen müssen.
Wir erfahren, dass es wieder Rodungen durch Siedler:innen auf ihrem Grundstück gab. Viele Obstbäume im Tal wurden zerstört, und eine Fläche planiert, von der die Familie nicht weiß, wozu sie dienen soll. Wir können nur von oben am Hügel hinunterschauen, da wir sofort von Siedler:innen bedroht werden würden, wenn wir uns in das Tal hinunter wagen würden.
27.04.2024
Langsam werden Besuche beim Tent of Nations zur Routine. Wir treffen eine Niederländerin, die seit einer Woche auf dem Weinberg ist. Die Niederländerin, die teilweise für die Niederländisch Reformierte Kirche arbeitet, lebt seit vielen Jahren immer wieder für drei Monate am Weinberg. Dort wohnt sie die meiste Zeit allein und wird von der Familie täglich besucht. Tagsüber begleitet sie Daher, wenn er seine landwirtschaftliche Arbeit verrichtet. Dies gibt ihm etwas Sicherheit, wenn fast täglich Siedler:innen auftauchen. Gestern kam eine ganze Gruppe mit Hunden und bewaffneter Begleitung auf der neuen Schotterstraße außerhalb des Zaunes. Es geht ihnen einfach darum, Angst zu erzeugen und zu zeigen, dass sie Anspruch auf das Land erheben. Sie versucht in den Niederlanden Freund:innen zu organisieren, die möglichst paarweise nach einander kommen um eine kontinuierliche Präsenz auf dem Hügel zu gewährleisten.
Eine Woche lang war auch ein Mann aus Kanada auf dem Weinberg. Er ist Quäker und schult Freiwillige der Community Peacemaker Teams (CPT).
Die niederländische Freundin erzählte mir noch mehr Details über die seit ca. vier Jahren andauernde Bedrohung durch Angriffe von vier Männern aus dem Dorf Nahalin. Einer ist Rechtsanwalt und beansprucht Teile des Landes mit der Behauptung gültige Rechtstitel zu haben. Die anderen drei sind wohl eher Mitläufer. Einer der drei Männer gehört zur selben Großfamilie wie der neue Bürgermeister. Es ist im Dorf „bekannt“, dass dieser Rechtsanwalt schon andernorts Land an Siedler:innen verkauft hat. Die Familie erlebt dies als massive Bedrohung aus der eigenen Gesellschaft mit all der Unsicherheit, welches Interesse dieser Mann genau hat. Amal erzählt, dass bereits 35 Gerichtsverfahren gegen diese Männer bei Gericht in Bethlehem am Laufen sind und zu keinem Ergebnis kommen. Dies beeinflusst auch den Prozess der Familie bezüglich des Eigentums an dem Grundstück vor dem Israelischen Gericht für den für 2. Juli ein neuer Termin in Bet El angesetzt ist.
Nach einer Zeit landwirtschaftlicher Arbeit und der üblichen Runden mit Kaffee verabschieden wir uns wieder bis zur nächsten Woche.
03.05.2024
Nach Hilferufen von Daoud am Vortag fahren wir wieder zum Tent of Nations.
Amal und Daher erzählen von den gestrigen Ereignissen. Sie sind es gewohnt solchen Ereignissen Stand zu halten. Die Erschöpfung und Nervosität sind ihnen nicht anzumerken. Sie strahlen über das ganze Gesicht. Eine klare Haltung der Gewaltlosigkeit und jahrelanges „Training“ gibt ihnen wohl diese unglaubliche Kraft! Sie hatten von Nachbar:innen gehört, dass ein Bagger schon am Tag davor auf dem Hang ihres Grundstückes gearbeitet hatte. Diese Seite ist vom Gipfel des Hügels aus nicht einsehbar.
Die niederländische Freundin berichtet, dass sie auf Grund des Berichts aus der Nachbarschaft zu der Stelle geschaut hat und am späteren Vormittag wieder einen Bagger bei der Arbeit sah. Gemeinsam mit Amal forderten sie den mit Sturmgewehr bewaffneten Baggerfahrer auf, mit seiner Arbeit aufzuhören. Dieser war relativ freundlich und meinte, er würde nur Arbeit ausführen, die ihm angeordnet worden war. So verständigt er seine Auftraggeber. Bald erscheinen zwei Siedler in einem kleinen, geländegängigen Fahrzeug. Ebenso bewaffnet, beginnen sie aggressiv zu schreien und versuchen, die zwei Frauen zu vertreiben.
In der verbalen Auseinandersetzung werden gegenseitig Ansprüche erhoben, wem das Land gehört!
– Siedler: „Biblisches Land“ – Amal: wir leben seit hundert Jahren hier;
– Die Familie hat Rechtstitel und Eigentumsnachweise – Siedler behaupten dies auch, wollen / können keine zeigen;
– Zeigen des höchstgerichtlichen Urteils, das den Anspruch der Familie bestätigt bzw. den Stopp jeglicher Bautätigkeiten fordert;
– Amal: „Ihr behauptet, dies sei ein demokratischer Staat und ihr verhaltet euch so!“ – Siedler: „Demokratischer Staat gilt nur für uns, mit euch kämpfe ich mit Waffen!“
– Siedler: Bagger soll weiterarbeiten! – Amal: Nein, Stopp, das ist unser Land, ihr habt hier kein Recht zu bauen!
Vom oberen Rand des Hügels schauen Bewohner:innen des Dorfes zu. Manche scheinen belustigt über die Ereignisse, andere rufen der Familie ihre Solidarität zu und rufen die Verwaltung des Dorfes Nahalin an. Es ist unsicher, ob ein Näherkommen der Dorfbewohner:innen hilfreich wäre oder nicht. Der Familie ist absolute Gewaltfreiheit wichtig. Wenn andere sich beteiligen, bleibt in der Aufregung die Kommunikation nicht immer gewaltfrei. Auch könnten sich die Siedler:innen mehr provoziert fühlen und leichter zu ihren Waffen greifen.
Es ist eine Kommunikation mit nur wenigen Meter Distanz, wobei die Siedler scharfe Waffen tragen.
Daoud arbeitet im Hintergrund, um alle Hebel in Bewegung zu setzen, diese illegale Bautätigkeit zu stoppen. Fahrzeugkennzeichen werden übermittelt. Der Rechtsanwalt der Familie kann das Militär erreichen, dieses ruft bei der Frau aus den Niederlanden an und erkundigt sich freundlich nach der Lage, eventueller Bedrohung, und beteiligten Personen. Da der Kontakt vom Militär über die Freundin direkt zu den Siedler:innen wenig sinnvoll ist, ruft das Militär diese direkt an und gibt Anweisung, sich zurückzuziehen. Dies tun die Siedler:innen und der Baggerfahrer etwas verwirrt und ungehalten.
Daoud will eine Anzeige bei der israelischen Polizei machen. Deren zuständiger Posten ist in der Siedlung Beitar Illit oberhalb des Dorfes Nahalin. Diese kann Daoud auf den für ihn erlaubten Straßen schwer erreichen und der Zugang zur Siedlung ist ihm verboten. Es braucht lange, bis er von der Polizei bei der Einfahrt abgeholt wird, um beim Posten dann zu erfahren, dass es – aus was für Gründen auch immer – nicht möglich ist, eine Anzeige gegen die Siedler:innen zu erstatten. Letztlich gelingt es Daoud, eine Anzeige online einzureichen.
Das Ergebnis des Tages, das Amal und Daher fast mit ein wenig Stolz erfüllt, ist die Tatsache, dass es erstmals möglich war, laufende Bautätigkeiten durch gewaltfreien Widerstand durch das Militär zu stoppen. Es scheint so, als ob diese Bautätigkeit eine eigenmächtige Aktion weniger Siedler:innen ist und nicht eine geplante Aktion israelischer Planung. Es wird sich erst zeigen, ob diese Aktion auch nachhaltig erfolgreich war, oder ob es aus Frustration der Siedler:innen, gestoppt worden zu sein, nun zu anderen Angriffen kommen wird.
Die Bedeutung internationaler Präsenz wird hier sehr deutlich. Ohne die internationale Präsenz, wäre die Situation vermutlich anders verlaufen. Darum bittet Daoud dringend, dass mehr Freund:innen sich bereit erklären, länger auf dem Weinberg zu leben sowie die Niederländerin. Die aktuelle Politik von EAPPI, ist sehr auf Sicherheit bedacht und erlaubt es uns nicht, anwesend zu sein, wenn Siedler:innen oder Militär zugegen sind.
Daoud will für 31. Mai verschiedene internationale Vertretungen auf den Weinberg einladen. Wir laden auch die österreichische Vertretung in Ramallah dazu ein.
Bitte beachten:
Ich bin als Ecumenical Accompanier von der Diakonie ACT Austria, dem Internationalen Versöhnungsbund und Pax Christi Österreich zum Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI) des Weltkirchenrates entsandt. Die hier geteilten Ansichten sind meine persönlichen und spiegeln nicht unbedingt jene meiner Sendeorganisation oder des Weltkirchenrates wider. Möchten Sie die hier enthaltenen Informationen weiter veröffentlichen (inklusive der Veröffentlichung auf einer Website) kontaktieren Sie bitte zuerst eappi@diakonie.at zur Genehmigung. Danke!