Welcome back, Nasser!
26. Januar 2016, 11h morgens, Yatta. Jemand klopft energisch an der Tür unserer EAPPI-Wohnung, deren Temperatur aufgrund der starken Schneefälle in den letzten Tagen in den Keller gerutscht ist. Mein Kollege freut sich über die willkommene Abwechslung in unserer Anti-Kälte-Routine und beeilt sich, die Tür zu öffnen. Vor uns steht Nasser Nawajah, unser Vermieter, Aktivist in der israelischen Organisation B’Tselem, die die Menschenrechte verteidigt, und einer der Führer der Dorfgemeinschaft in Susiya! Welch eine wunderbare Überraschung! Ohne zu zögern bieten wir ihm unseren besten Platz an der Heizung an, sowie eine Tasse süssen heissen Tee. Sofort beginnt er, uns die Ereignisse der letzten Tage zu erzählen, die mit einer Art Happy End beginnen: nämlich mit seiner Freilassung aus dem Militärgefängnis Ofer, gerade erst gestern!
Seine Geschichte hört sich an wie eine « Studie über das israelische Rechtssystem, oder eigentlich über die militärische Besetzung » (http://972mag.com/israeli-police-smuggle-palestinian-suspect-out-of-the-country/116167/):
In der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 2016, zwischen 1h und 2h morgens, wird das Beduinencamp von Susiya brutal aus dem Schlaf gerissen: ungefähr 20 Militärjeeps, etliche israelische Soldaten, schwer bewaffnet und maskiert, überfallen das Dorf, erleuchten die Zelte mit ihren hellblendenden Projektoren. Einer der Brüder von Nasser wird zuerst geweckt und von den Soldaten, die ihn für Nasser halten, schikaniert. Sobald der Irrtum aufgeklärt ist, wenden sich die Soldaten an Nasser, der eine offizielle Vorladung auf das Polizeikommissariat vorgezogen hätte. Stattdessen werden ihm Handschellen angelegt, vor seiner Frau, den erschrockenen Kindern, vor den Augen der ganzen Familie, und er wird abgeführt – niemand weiss wohin.
Die darauf folgenden Ereignisse können kurz zusammengefasst werden: die Anhörung vor dem Magistratsgericht in Jerusalem am 20. Januar endet mit einer Anordnung der sofortigen Freilassung von Nasser Nawajah, denn das Gericht ist zu dem Schluss gekommen, dass es in diesem Fall überhaupt nicht zuständig ist. Doch die Ausführung dieser Anordnung unterliegt einer 24-Stunden-Frist, um der Polizei zu ermöglichen, Berufung einzulegen, was sie auch tut. Am folgenden Tag, 21. Januar, lehnt das Zivilgericht des Distrikts von Jerusalem die Berufung ab und ordnet erneut die sofortige Freilassung Nassers an. Die Polizei hat eine Frist von ein paar Stunden, um dem Rechtsanwalt von Nasser mitzuteilen, ob sie Berufung einlegen wird (beim Obersten Gerichtshof) oder ob sie Nasser freilassen wird, doch sie lässt sie verstreichen. Merkwürdigerweise wird der Anordnung der Freilassung dennoch keine Folge geleistet; stattdessen wird Nasser heimlich in die Westbank zurückgeschleust, wo Palästinenser nicht zivilem Recht unterstehen, sondern militärischem Recht. Dort, auf dem Militärgericht von Ofer, in Abwesenheit von Nassers Rechtsanwalt, gibt der Richter der Polizei vier Tage Zeit, bis zur nächsten Anhörung am 24. Januar, ihre Anschuldigungen besser zu dokumentieren. Da es der Polizei nicht gelingt, ausreichende Beweise vorzulegen, ordnet das Gericht an, Nasser freizulassen, wieder mit einer 24-Stundenfrist, um der Polizei zu ermöglichen, Berufung einzulegen. Dieses Mal verzichtet die Polizei darauf. Deshalb wurde Nasser effektiv am 25. Januar abends freigelassen.
Doch worum geht es hier eigentlich? Was ist der Hintergrund dieses Justizkrimis?
Auf den ersten Blick scheint es so, als hätte alles mit einer israelischen Fernsehsendung angefangen, «Uvda». In dieser Sendung wird suggeriert, dass eine Klage wegen eines illegalen Landverkaufs, die Nasser vor einem Jahr bei der Palästinensischen Autorität eingereicht hat, das Leben des potentiellen Verkäufers gefährdet hat. Der Verkäufer lebt zurzeit in Israel und hat zu diesem Zeitpunkt selbst keine Klage eingereicht. (http://m.btselem.org/press_releases/20160125_military_court_orders_the_release_of_btselem_worker)
Doch der wahre Hintergrund dieser Anekdote ist die Verschärfung der Kampagne der israelischen Regierung und nationalistischer israelischer Organisationen gegen nichtstaatliche Organisationen (NGOs) in Israel, die sich für Menschenrechte engagieren und gegen die Besetzung Palästinas opponieren. Zielscheiben dieser Kampagne sind Breaking the Silence, Machsom Watch, B’Tselem und andere. Vorwand für diese systematische Kampagne ist die Tatsache, dass diese NGOs teilweise von ausländischen Regierungen finanziert werden. Eines der Instrumente, die darauf abzielen, die Aktivitäten dieser NGOs zu behindern, ist ein Gesetzesentwurf namens «Transparency Bill»: dieses neue Gesetz soll alle Organisationen dazu verpflichten, eventuelle finanzielle Unterstützung aus dem Ausland offen zu legen. Doch «die Forderung nach Transparenz ist absichtlich trügerisch. Jede israelische NGO (…) ist gesetzlich verpflichtet, die Herkunft ihrer finanziellen Ressourcen darzulegen und beim Register für nichtstaatliche Organisationen sowie beim Präsidenten des Rechnungshofes eine Liste von Spendern zu hinterlegen (…) Dieser Gesetzesentwurf ist nichts anderes als politische Verfolgung (…) Der Entwuf von [Ayelet] Shaked zielt nicht nur auf alle linken Organisationen ab, sondern auf die gesamte Linke. Er zielt nicht darauf ab, Israel davor zu schützen, dass sich ausländische Regierungen in seine internen Angelegenheiten einmischen. Er zielt darauf ab, die Rechte zu schützen», schreibt Mazal Mualem im Al-monitor. (http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2015/11/israel-ayelet-shaked-transparency-bill-leftwing-ngos-funds.html#ixzz3yN2SG5dO)
Doch diese Geschichte ist definitiv noch nicht zuende. Deshalb wird B’Tselem «ihr Engagement zugunsten von Nasser aufrecht erhalten bis zu seinem endgültigen Freispruch». (http://m.btselem.org/press_releases/20160125).