Ezra hebt die Augenbrauen. Halb spöttisch, etwas mitleidig, etwas hoffnungslos. Dabei hat er so gar nichts Zweifelndes an sich, ein Mann von unglaublicher Präsenz, unter weisser Kufiyah, grauhaarig, mächtig und doch irgendwie intellektuell, gebildet, gewandt. Ein versierter jüdischer Aktivist, ein Helfer seit der ersten Stunde, ein gefragter und freier – reisefreier – Redner halt, zweisprachig, weltoffen, der kommen und gehen kann, nicht wie die meisten anderen hier.
„Hier in Susiya wird nichts passieren, überall sonst brennt es, aber ihr seid alle hier.“
Schäfer werden täglich angegriffen, letzte Woche wurde einer übel zugerichtet von Siedlern.
Und ja, wir sitzen hier in ständiger Doppelpräsenz, sind extra dafür einberufen worden, wir warten, und nichts ist bisher geschehen. Durch den Feldstecher sehen wir SiedlerInnen und Soldaten in der Ferne, wir wissen nicht, was sie im Sinn haben, was ihre Strategie ist und was das überhaupt ist, was wir sie gerade tun sehen. Wir wissen nicht einmal, ob sie im Einvernehmen mit der Regierung sind oder im Widerspruch, ob ihnen das, was sie tun oder beabsichtigen, erlaubt ist oder nicht. Immer mal wieder kommen sie herunter, verstümmeln die Olivenbäume der palästinensischen Bauernfamilien oder reissen sie aus, oder sie stecken eine neue Weidefläche ab für ihre eigenen Tiere. Ein ständiger Wachposten des israelischen Militärs wacht darüber und garantiert, dass die Geschädigten nichts mehr zurückzuholen versuchen.
Warum sind wir denn genau hier? Susiya ist ein Dorf von 300 bis 400 EinwohnerInnen, davon zwischen 70 und 120 Kinder, die Zahlen unterscheiden sich je nach Quellen enorm: 55 Familien sind es nach UNOCHA. Es gibt eine Schule, viele Tiere, Bäume, Landwirtschaft. Da das Dorf vom definitiven Zerstörungsbefehl betroffen ist, der vor kurzer Zeit durch das Oberste Gericht in Israel geschützt wurde, kann er zu jeder Minute ausgeführt werden. Und wenn das passiert, dann bricht die Welt dieser Menschen in einem halben Tag zusammen.
Zerstörungsbefehle unterschiedlicher Dringlichkeit haben viele Gebäude in Area C, und die macht mindestens 60 % des gesamten Westjordanlands aus (auch diese Zahl ist abhängig von den Berechnungsgrundlagen, nimmt man die Grenzanlagen dazu, ist sie noch höher). Die BewohnerInnen leben weiter und hoffen einfach, dass es nicht zur Ausführung der Zerstörungsbefehle kommt. Als Gründe wird angeführt, die Gebäude der PalästinenserInnen seien illegal erstellt oder zu nahe an (später erstellten, illegalen jüdischen) Siedlungen, also ein Sicherheitsrisiko, oder das Gebiet sei Militärzone (was z. B. für das gesamte Jordantal gilt, wo jetzt die Agrarindustrie floriert). Eine besonders seltsame Enteignungsgrundlage ist die archäologische Bedeutung eines Ortes. Dies wurde in Susiya ins Feld geführt. 1986 wurden alle BewohnerInnen des historischen Dorfes vertrieben, weil sie auf bedeutsamem jüdischem Grund seien.
Die BewohnerInnen des alten Susiya mussten flüchten und liessen sich ganz in der Nähe auf ihrem eigenen Landwirtschaftsland nieder, in Unterkünften, die mehrmals wieder zerstört und neu aufgebaut wurden. Steinbauten sind offenbar besonders verboten, und so verbergen sich unter einigen der Wohnzelte gemauerte Räume.
Kleine Überlegung: Die Besatzungsmacht hat im eroberten Gebiet etwas entdeckt – beutet es aus und vertreibt die BewohnerInnen mit der Behauptung, im Untergrund befände sich etwas, das mit der eigenen Geschichte vor 2000 Jahren zu tun habe. Seit dem 2. Weltkrieg ist es Staaten völkerrechtlich verboten, sich gewaltsam eroberte Gebiete anzueignen. Was ist mit der Geschichte derer, die darauf gewohnt haben?
Seither ist dort eine archäologische Erholungszone mit Parkplätzen und Restauration, wo man Bar Mitzwah und Hochzeiten feiert.
Man sollte jedoch nicht vergessen, dass 1982, also vier Jahre vor der Vertreibung, eine israelische Siedlung entstanden war, die sich selbst Suseya nennt, und es wäre sehr blauäugig zu denken, beides habe nichts miteinander zu tun.
Mittlerweile ist die Siedlung gewachsen, und mitten in der Ausgrabungs- und Vergnügungsstätte ist ein neuer Outpost entstanden. Das sind kleine Niederlassungen einzelner Radikaler, allein oder einer kleinen Gruppe, die wie eine Art Pflöcke, weit von existierenden israelischen Siedlungen im Westjordanland entfernt und unverbunden eingeschlagen werden. Diese sind dann ganz klar auch von Israel aus gesehen illegal, und dennoch werden sie mit Militär geschützt und die Bewohner, als israelische Bürger, selbst bei kriminellen Aktivitäten verteidigt.
Allen Outposts liegt die Idee, sie mit bestehenden Siedlungen, letztlich mit dem israelischen Kernland zu verbinden, zugrunde. So ist es auch hier selbstverständlich. Doch mittendrin liegt das Land der Vertriebenen und deren jetzige Wohnstätten.
Wer nun unbesehen an eine fundierte Rechtssprechung glaubt, mag sagen: Ganz offensichtlich handelt es sich um illegale Bauten, es gibt daher nichts daran zu rütteln, diese verbotenen Zelte müssen verschwinden.
Man muss sich wirklich fragen, warum das oberste Gericht diesen unbegreiflichen Entscheid gefällt hat: Die BewohnerInnen eines Dorfes, das annektiert wurde, die jetzt auf ihrem Land leben, sollen auch von dort vertrieben werden. Wie ist das zu rechtfertigen?
An der Wand des Versammlungszentrums in Susiya hängt eine unbeholfene Landkarte: Völlig verpixelt, eigentlich gänzlich unbrauchbar. Und doch verrät sie viel: Sie wurde wohl vom Internet heruntergeladen, weil die palästinensischen Bewohner dieser Gebiete keine gültigen Landkarten bekommen; die israelische Verwaltung (Civil Administration) behält die Einteilung in israelische und palästinensische Zonen und die festgelegten Grenzen für sich. Die Karte zeigt eine offenbar israelische Darstellung der Situation um Susiya, welche die Zerstörungspläne als ausgewogen und gerecht erscheinen lassen möchte. Grosse, leuchtend rote Punkte bezeichnen israelische Objekte, welche angeblich zerstört werden müssten. Auf dem braunen Hintergrund fast verschwindende blaue Punkte hingegen bezeichnen die palästinensischen Bauten, welche zu entfernen seien.
Es sieht so gerecht aus, ja fast scheint es, es seien mehr israelische Gebäude betroffen als palästinensische. Und das kann man nur erklären, wenn man hier gelebt hat oder wenigstens offen ist für das, was hier Wohnende erzählen: „No way, das geschieht niemals, dass die israelischen Bauten wirklich verschwinden müssen“, sagen Ezra und der örtliche Kontakt übereinstimmend.
Ab und zu wird zwar unter grossem medialen Aufmarsch auch mal ein selbst für Israel als illegal geltender Vorposten oder eine kleine Siedlung geräumt, aus irgendwelchen Überlegungen heraus, weil die Bewohner selbst keine Lust mehr haben, weil es nicht rentiert, weil sie anderswo wohnen, oder wie einst in Gaza aufgrund der Politik. An manchen solchen Orten, so haben wir gesehen und gehört, gibt es Spekulationsbauten, billige kleine Schnellhäuser, die niemand je bewohnt, sondern den Erstellern fette Entschädigungen abwerfen, wenn sie geräumt werden müssen. Aber davon ist hier nicht die Rede.
Vermutlich wurde dem Gericht aber etwas in der Art dieser Karte, natürlich weit professioneller, vorgelegt, eine Gleichbehandlung illegaler Bauten auf beiden Seiten vorgespiegelt, was die Zerstörungsanordnung gerecht erscheinen liess. Daher hat das Gericht entschieden, die Räumung der Zelte von Susiya sei erlaubt, bevor im August über den Masterplan verhandelt wird. Und das ist der Grund, warum hier alle befürchten, dass die israelische Regierung diesen aktuellen Spielraum nutzen wird, um Tatsachen zu schaffen, bevor jemand auf die Idee kommt, die aus Alt-Susiya vertriebenen Menschen sollten auf ihrem Land wohnen bleiben dürfen.
Pia, Susiya, 10.07.15