Die unvermittelte Wirkung „Echter Bilder“

Verfasst von - 22. Juni 2016 - Archiv

Nun bin ich schon ein wenig mehr als 3 Wochen in Jerusalem. Unsere Arbeit als EAs, so nennen sich die Freiwilligen des EAPPI Programms, basiert auf Zurückhaltung. Unsere Richtlinien besagen, dass wir uns im Hintergrund halten und niemals auf Provokationen eingehen sollen. Wir halten uns an Anweisungen von israelischen Soldaten und Soldatinnen, z.B. räumen wir unsere Kameras weg, wenn wir dazu aufgefordert werden. Es ist uns auch nicht erlaubt an Demonstrationen teilzunehmen. Wenn die israelische Regierung bereits uns als „Sicherheitsrisiko“ für das Land einstuft, wie ist dann wohl ihre Wahrnehmung von Palästinenser und Palästinenserinnen geprägt?

Damaskustor_klein, Photo Ana C.

Damaskustor, Photo: EAPPI

Die vergangenen Wochen waren… intensiv, um es moderat auszudrücken. Das meiste was ich gesehen habe, habe ich so oder in ähnlicher Form bereits in der Vergangenheit, zuhause, in den Nachrichten gesehen. Meine palästinensischen Freunde und Freundinnen in Wien haben mir immer wieder mal verstörende Bilder und Videoaufnahmen von Menschenrechtsverletzungen gegenüber PalästinenserInnen gezeigt. Ich gestehe es nicht gerne ein, doch man stumpft mit den Jahren ab, man sieht die Videos, denkt sich auf intellektueller Ebene, dass das Gesehene eine ungeheure Grausamkeit ist, doch emotional löst es nur noch wenig aus. Ich hatte nicht mit der Wirkung „echter Bilder“ gerechnet, die mich hier einholen würden…

Zur Zeit des jüdischen Passahfestes und des orthodoxen Osterfestes war Jerusalem bis auf die Zehenspitzen aufgerüstet. Aber auch abseits der Feiertage ist Jerusalem eine hoch militarisierte Stadt, vor allem in und rund um die Altstadt. Wo immer man sich hin wendet, sieht man SoldatInnen oder israelisches Sicherheitspersonal. Am berüchtigten Damaskustor, bei dem es vergangenes Jahr etliche Messerattacken gegeben hatte, wurde ein Soldat eingesetzt, der über dem riesigen Tor auf der Stadtmauer seine Basis hatte. Von den Treppen gegenüber dem Damaskustor ist er gut erkennbar. Seine Finger nonstop am Abzug schwenkt er sein Gewehr langsam von einer Seite zur anderen. Manchmal verharrte das Gewehr in einer Position.

Dreimal pro Woche ist es während der Schulzeit – nun haben bereits die Ferien begonnen – die Aufgabe des Jerusalemer EAPPI Teams von halb acht bis acht Uhr morgens den Zutritt von palästinensischen Schulkindern durch das Damaskustor zu beobachten, wo sich rund um die Uhr drei bis sieben israelische SoldatInnen befinden. Eine palästinensische Schuldirektorin aus der Altstadt hatte EAPPI um Präsenz gebeten, da die Schulkinder sich vor den SoldatInnen fürchteten. Durch unsere Anwesenheit sollen sich einerseits die Kinder sicherer fühlen, andererseits soll die Präsenz internationaler BeobachterInnen Übergriffe vermeiden.

Jugendliche werden vom israelischen Militär durchsucht, Photo: Ana C.

Jugendliche werden vom israelischen Militär durchsucht, Photo: EAPPI

An manchen Morgen wurde in der halben Stunde nicht ein Palästinenser aufgehalten und kontrolliert. An anderen Morgen war es ein ständiges Anhalten. Sobald einer freigelassen wurde, wurde schon der Nächste herausgezogen. Die Kontrollen scheinen völlig willkürlich zu sein.

Ich habe nun schon etliche Male mitangesehen, wie während der Kontrolle von jungen palästinensischen Buben Waffen auf sie gerichtet wurden, vor allem beim Damaskustor, das die angrenzenden Ostjerusalemer Bezirke von der Altstadt trennt. Palästinensische Kinder und Jugendliche im besetzten Ostjerusalem können jederzeit von israelischen SoldatInnen grundlos und ohne Verdachtsmoment angehalten und einer Leibesvisitation unterzogen werden – sie müssen sich gegen die Wand stellen und ihr Hemd hochziehen. Nicht selten, wird währenddessen immer wieder das Gewehr auf sie gerichtet.

Auch an Nachmittagen beobachteten wir, dass zumeist palästinensische Buben und Jugendliche zwischen 11 und 19 Jahren aufgehalten wurden. Als ich das erste Mal mit ansah, wie ein  Soldat mit Maschinengewehren ein Kind grob behandelte und am Hals packte und anschrie brach etwas in mir zusammen. Plötzlich konnte ich alle Gefühle spüren, die dieser Junge in diesem Moment spüren musste, sie übertrugen sich gleichsam auf mich. Angst, Wut, Aggression, Hilflosigkeit, Scham. Plötzlich hatte ich es direkt vor meinen Augen und nicht auf abstrakten Videoaufnahmen. Ich musste mich zurückhalten nicht einzugreifen. Es ist etwas anderes, wenn so etwas Kindern passiert. Erwachsene sind besser fähig mit solchen Situationen umzugehen. Ich musste an alle Kinder denken, die so eine Situation erleben. Was würde aus ihrem Leben werden? Welche Zukunft hatten sie? Und welchen Weg würden sie einschlagen?

Viel zu oft sieht man hier palästinensische Kinder mit Spielzeugwaffen spielen. War das am Anfang für mich noch befremdlich, verstand ich bald, dass sie damit nur die Erwachsenenwelt imitieren und der Realität den Spiegel vorhalten. Und: wie verrückt ist diese Stadt Jerusalem, in der palästinensische Schulbuben anlasslos nach Messern oder anderen Gegenständen durchsucht werden, während israelische Zivilisten mit umgehängtem Gewehr vorbeispazieren dürfen? Welche Generation an PalästinenserInnen wird hier heranwachsen? Ehud Barak, der ehemalige Premierminister Israels, sagte einmal in einem Interview mit Gideon Levi im März 1998: “If I were a Palestinian at the right age, I would have joined one of the terrorist organizations at a certain stage.”

Palästinensischer Junge mit Spielzeugwaffe, Photo: Ana C.

Palästinensischer Junge mit Spielzeugwaffe, Photo: EAPPI

Bewaffnete israelische Zivilisten, Photo: Ana C.

Bewaffnete israelische Zivilisten, Photo: EAPPI